Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
LIFT – das Jubiläumskonzert 50 Jahre 04.11.2023 „Einer schenkt Wasser, einer schenkt Wein, tagtäglich sich ein“ (Musik: Heubach; Text: Demmler). Fünfzig Jahre sind eine verdammt lange Zeit und dennoch, rückblickend aus meinem 75. Lebensjahr scheint es mir, als wäre vieles in diesen Jahren erst gestern geschehen. Dann ist Zeit plötzlich nur ein Hauch, in dem dennoch viele Ereignisse schlummern. Einige davon haben sich tief in mein Gedächtnis eingebrannt und die werden heute sicherlich noch einmal erwachen. Vor dem geschichtsträchtigen Monument eines Gotteshauses, der Frauenkirche in Dresden, warten viele auf das Konzert von LIFT, jene Band, die heute mit einem Jubiläumskonzert 50 Jahre Bandgeschichte feiern wird. Drei Stunden vor Konzertbeginn werde ich das erste Mal umarmt. Mary, Silvia und Martin sind hier. Da muss ich das erste Mal tief durchatmen, damit mich die Emotionen nicht überwältigen. Drinnen, wenig später, fühle ich mich wie Gast bei einem Klassentreffen. Musiker und Freunde der LIFT-Familie sehen sich aus dem besonderen Anlass wieder. Mit Gesprächen, Erinnerungen und Lachen stimmen sie sich auf das Konzerterlebnis ein. Viele mir bekannte Gesichter sind darunter und ich genieße es, hier dabei sein zu dürfen und so angeregt, in meine persönlichen Erinnerungen eintauchen zu können. Erst beim Betreten des großen Innenraumes, unter der erhabenen Kuppel der Frauenkirche stehend, realisiere ich wirklich, dass hier gleich eine besondere Jubiläumsfeier zu erleben sein wird. Die Frauenkirche ist bis unter die Kuppel mit angespannt wartenden Besuchern gefüllt. Sie kamen, um die Lieder zu hören, mit denen sie Erinnerungen verbinden. Eineinhalbtausend Enthusiasten - was für ein Anblick! Die Klänge der Orgel eröffnen das Konzert mit einem Motiv, das jedem unter die Haut geht, denke ich. Wie auf einer Tonleiter klettern die Töne empor, bis die Melodie der „Meeresfahrt“ erschaffen ist. Mir scheint, als wolle das Instrument jeden Einzelnen hier musikalisch mit der Scheffler-Melodie umarmen. Was für ein grandioser Einstieg und was für eine dramaturgische Geste! Als Werther Lohse die Bühne betritt, den Besuchern sein Willkommen entbietet, startet der Liederabend. Es gibt „Wasser und Wein“ zur Begrüßung und damit einen der großen Klassiker, komponiert von Michael Heubach, getextet von Kurt Demmler und entstanden 1976, noch vor der ersten Amiga-Platte. In einem hinteren Seitenschiff sitzend, trifft mich der Sound mit voller Wucht. Alles passt, auch die Worte von Werther zu den Trümmern der Frauenkirche und vom ersten Bandfoto davor. Es sind emotionale Erinnerungen, die zu „Jeden Abend“ aus dem Jahre 1977 überleiten, jenem Jahr, in dem LIFT bei uns in Elsterwerda ein Konzert gab und der unvergessene Henry Pacholski diese Melodie sang ( HIER ). Ein Liebeslied voll Poesie, geschaffen als Balsam für Seele und Herz, zumal diesmal die vier ehemalige Kruzianer wieder das Klangvolumen dezent verstärken. Ich starre nach vorn und lasse mich vom Rausch dieser schlichten Melodie und der Stimmen verzaubern – hab’ einen Kloß im Hals. Mit Joachim Krauses bittet Werther einen Mann auf die Bühne, der schon die Ursprünge von LIFT bei dem Dresden- Sextett- und Septett begleitete. Bereits fünf Jahre zuvor spielte Joachim Krause bei den Meridas gemeinsam mit Gerhard Zachar in Glauchau. Jene wilde Zeit der Beatmusik bringt er uns mit dem „ABC des Lebens“ aus seinem Buch „Am Abend mancher Tage“ nahe. Mir ist, als würde der Mann nicht nur aus seinem Leben erzählen: Beatmusik, Schüler- Combo, Grenzen ausloten, lange Haare. Ich kenne einige, die solche Episoden durchlebten, sich vielleicht genau in diesem Moment erinnern. Aus dem Rund hört man zuweilen leises Zustimmen und unterdrücktes Lachen. Das Leben war schillernd und bunt, manchmal grau und bitter, aber sehr oft fröhlich, in diesem kleinen Land. Natürlich klingen die Klassiker von einst live nicht mehr wie damals. Zu viel ist geschehen, zu viel hat sich verändert und viel zu viele gingen zu früh von uns. Ein Problem, dass nicht nur Werther Lohse mit LIFT zu verwalten hat. Dass aber Songs wie „Meine Schulden“ live erkannt und geliebt werden, ist in diesen Minuten nicht zu überhören. So taucht Andreas „Bruno“ Leuschner die „Falsche Schöne“ noch immer in das musikalische Klanggewand eines Spinetts. Mit geschlossenen Augen träume ich mir so die frühen Jahre in das Lied hinein und für drei Minuten ist meine Welt in Ordnung. Zu Hause bleiben, weil sich diese Welt, und mit ihr die Musik, ständig ändert, ist für mich keine Alternative. Ich brauche solche Live-Erlebnisse mit den Erinnerungen, wenigstens ab und an, wie die Luft zum atmen! Wie groß ist dann die Freude, einen selten gehörten Song wie „Der Frieden“, noch dazu live, mit der Unterstützung durch ein Streichquartett, zu hören. Da kann einem alten Genießer schon einmal die Kinnlade abklappen! Und Wolfgang Scheffler’s Geniestreich „Liebeslied“ von vier Kruzianern - Lucas Reis, Alexander Rau, Moritz Schlenstedt und Elias Riemenschneider - a capella vorgetragen, berührt die Herzen noch immer ganz tief. Diese schlichten Balladen haben eine Strahlekraft, die Jahrhunderte zu überstehen vermögen. Ebenso berührend jener Moment, als Werther „Nach Süden“ gesungen und beendet meint, aber das Publikum das Lied einfach weiter singt. Ohne Aufforderung, aus eigener Lust und Freude am Augenblick. Das sind jene Momente, die ganz tief unter die Haut gehen und sich dort einbrennen. Einfach großartig und berührend. Was folgt, ist die „Abendstunde, stille Stunde (dieser Tag ist ausgebrannt)“. Unterstützt vom Klang der Orgel, entfaltet die Ballade ihre Schönheit und Werther findet Gelegenheit, noch einmal seinen Platz hinter dem Schlagzeug einzunehmen, ehe er dann, in Erinnerung an Stephan Trepte, „Mein Herz soll ein Wasser sein“ anstimmt. Ohnehin ist dieses Konzert auch ein Abend des Erinnerns an jene, die die LIFT-Familie zu früh, und viel zu oft unter tragischen Umständen, verlassen mussten: Gerhard Zachar, Henry Pacholski, Till Patzer, Stephan Trepte, Christiane Ufholz und Franz Bartzsch. Auch deshalb ist es gut und wünschenswert, die Songs der Band noch immer live genießen zu können. Erst recht, solange es überhaupt noch in dieser Form möglich ist! Wir bekommen „Leb’ Deinen Traum“, mit einem anschließenden Solo von Jakob Müller am Bass sowie vom Drummer Markus Christ, zu hören. Das Auditorium jubelt den beiden zu und freut sich dann über „Die gelben Wiesen“ aus dem Jahr 2008. Der nächste Höhepunkt erreicht uns aus der Höhe der Orgel. Von der Empore herab demonstrieren vier ehemalige Kruzianer noch einmal a capella, welche sanfte Energie in LIFT-Lieder verborgen schlummert. „Scherbenglas“ ist eines jener Klangjuwelen, fast schon ein Kunstlied, das wahrlich zeitlos und für alle Ewigkeit gemacht scheint. Hier in der Frauenkirche folgt dem Moment der Stille dann auch ein Sturm der Begeisterung. Verdammt, ist das schön, zu erleben. Noch einmal erinnert Joachim Krause an frühere Jahre und also auch an jenen tragischen Tag auf der Landstraße in Polen, wo der Bandleader und Bassist Gerhard Zachar sowie der Sänger und Rock-Poet Henry Pacholski den Tod fanden. Er erinnert daran, wie die Musiker den Mut zum Neuanfang suchten und ein Hausmeister den letzten Anstoß gab, damit „Am Abend mancher Tage“, mit jenen von ihm gefundenen Worten, ein Volltreffer werden konnte. Letztlich hören wir den Song, der untrennbar für den tragischen Moment, aber auch für die Fortsetzung des Weges der Dresdener Band steht. Wenn man all das beobachtend miterleben durfte, wenn es zu einem Puzzle der eigenen Vita wird, fühlt man sich letztlich angekommen. In etwa so geht es mir in diesen Minuten, denn LIFT war und ist eine der Bands, die meinen Musikgeschmack und mein Fühlen prägten. Hier bin ich aufgewachsen, Lieder wie diese sind ein Stück von mir, vom Leben zwischen Elsterwerda und dem Tal der Ahnungslosen, wo einst die Ruine der Frauenkirche symbolhaft stand und Bomben die erste Familie meines Vaters auslöschten. Aber da wäre ja noch die „Tagesreise“. Als LIFT 1977 im Gesellschaftshaus Hoppenz Elsterwerda ihr Konzert auf unserer ROCK-MIX-Bühne gaben, erklang auch zum ersten Mal die Tagesreise im Sound der Dresdener, wuchtig und prägnant. Dieses Erlebnis war ein bleibendes und bis heute ging von der Faszination dieser Heubach-Nummer nichts verloren, denn sie vermittelt noch immer „ein Stückchen Stärke für den nächsten Tag“. Die Nummer rockt, die Kirche bebt, das Auditorium steht und die Band begeistert. Finale und dann ist Schluss, alle Anspannung abgefallen. Jetzt stehe ich glücklich direkt an der Rampe, schaue den Akteuren in die Gesichter und deren Augen strahlen. Mancher winkt mir zu und Bruno nimmt dankbar den verdienten Applaus entgegen. Alle stehen sie in einer Reihe und wer genau hinsieht, kann auch Stolz in ihren Augen erkennen, während wir alle noch einmal gemeinsam „Wasser und Wein“ singen. Als abschließend die vier Sänger ihr „Schöne Nacht, Gestirne wandeln“ intonieren, stehe ich ganz hinten. Dort lassen ich den Gesang auf mich wirken und freue mich, diese Möglichkeit bekommen sowie genutzt zu haben – DANKE Werther. Wenig später treffe ich Petra und Klaus, zwei aus „meiner“ Truppe Jugendlicher, die mir einst halfen, Konzerte, u.a. LIFT 1977, zu organisieren. Da schließt sich für mich der Kreis, weiß ich mich am Ende einer langen Reise, die durchaus noch Fortsetzungen haben darf. Ich freue mich für Werther, weil ich den Weg bis hierher kenne. Mit Dina Straat und Micha Schiemann werden Erinnerungen getauscht, es werden Fotos geknipst und wir lachen in die Nacht hinein, glücklich, dankbar und aufgewühlt. Bleiben werden die wundervollen Lieder, die emotionalen Balladen und die komplexen Kompositionen, die uns so leichtfüßig erscheinen. Diese Musik wird die Zeiten überdauern, da bin ich mir sicher. Sie wird von Hoffnungen, Wünschen, Gedanken und dem Leben einer Generation erzählen, mit der ich erwachsen und sozialisiert wurde. Darüber bin ich glücklich, darauf bin ich stolz.