Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Viktorianisches Picknick beim Wave-Gothic-Treffen 2017 02.06.2017 Wo fange ich an und womit? Mit dem Sonnenschein? Mit keine Lust auf Konzert und damit, auch keine Lust auf ein Langstreckenrennen auf der Autobahn zum Beginn des Pfingstwochenendes zu starten? Doch genau das war es, keine Lust! Und was macht man, wenn man keine Lust auf Autobahn und viel Stehen und Laufen hat? Man macht genau das: Auto fahren, im Stau stehen, sich durch den Moloch drängeln und flanieren! Ist doch verrückt, oder? Eine Stunde vor dem Mittagessen der Entschluss, wir fahren zum Wave-Gothik-Treffen nach Leipzig. Gegen 14.00 Uhr liegen Piste, Baustellen und Stau hinter, der Großstadtverkehr vor mir. Parken nahe dem Clara-Zetkin-Park und dann die restlichen paar hundert Meter zu Fuß, bis das Grün zu sehen ist. Die Hauptstraße überqueren und plötzlich bin ich mittendrin unter Menschen, die nur ein Ziel kennen: Picknick auf der Wiese, sehen und gesehen werden sowie fotografieren, was die Linse hergibt. Hinter einer Gaststätte mitten im Park beschreibt der Weg einen Bogen und dann stehe ich unter Menschen, viele Menschen und alle anders, völlig anders! Alle Fotos auf dieser Seite kann man durch Anklicken vergrößern. In den Jahren zuvor, in denen das Vorhaben Wave-Gothik für mich stets scheiterte, konnte man lesen und hören, dass Leipzig zu Pfingsten „schwarz würde“ und bezog sich damit auf die vielen Gothic-Fans in dunkler Kleidung. Jetzt stehe ich im Clara-Zetkin-Park, rings um mich hunderte Menschen und sehe nur bunt: Schwarz, weiß, lila, rot, gelb, bunt. Keine Szene, die jemals Rockmusik repräsentierte, ist so schillernd und vielfarbig, wie die der Punks, Gothics, New Romantics, Mittelalter- und Industrial-Fans. Was waren wir Beatniks und Hippies doch noch für unschuldige Waisenknaben, aber immerhin auch die Wegbereiter all dessen, was dem Rock-Universum danach einfiel. Der grauhaarige Alt-Hippie und Rock-Opa in mir fühlt sich auf einmal sauwohl und staunt. Ich staune, wie wunderschön Menschen sind, wenn sie so sein dürfen, wie sie sein möchten. Gänzlich individuell und frei von „Normen“, die nicht die ihren sein können. Noch Stunden vorher sah ich jene, die im „hochmodischen“ Schlapperlook einer Trainingshose, so wie aus dem DDR-Konsum, und einem eiförmigen kurz rasierten Haarbüschel auf dem kahl rasierten Kopf, durch die Stadt watschelten. Ohne Haltung und ohne Profil, wie aus einem Berg Knete gepresst, aber den starken Max herauskehrend. Hier im Clara-Zetkin-Park begegnet mir eine junge Lady, in Pink und Creme getaucht, deren Konturen sich mit einem Strauch Pfingstrosen zu verwischen scheinen. Sie lächelt uns voller Stolz an und stellt sich, wie selbstverständlich, in Positur, einer Puppe aus dem Rokoko gleich. Eine andere Dame ganz in Rot, mit einem ausladend weiten Hut auf dem Kopf, steht auf dem Wege und eine weitere, mit einem Kinderwagen aus den frühen Jahren des vergangenen Jahrhunderts, der mit dem gleichen Stoff ihres Kleides bezogen ist, kommt mir entgegen. Ich entdecke zwei Schönheiten, fantasievoll bunt verkleidet, im Gras an einem zierlichen Tischchen sitzend, die haben es sich bei einem Glas Sekt ganz gemütlich eingerichtet. Die Wiesen links und rechts der Wege, die schattigen Plätze unter den riesigen Bäumen, überall entdeckt man fantasievoll kostümierte Menschen, die es sich bequem gemacht haben und ihr Picknick genießen. Ich bin überwältigt von all der Vielfalt des bunten Wave-Gothic-Volkes, deren Tun mich entfernt an die frühen Happenings der Beat-Ära erinnert. So könnte es gewesen sein, aber dies hier ist das Heute und einfach nur zauberhaft schön! Was ebenfalls sofort auffällt, ist die ruhige Ausgeglichenheit, der Stolz und das Vergnügen, die in den Gesichtern abzulesen sind. Nicht ein einziges Mal ist auch nur ein Hauch von Hektik oder gar Rüpelei zu erleben. Kein grölendes Saufen, wie bei Fußballspielen, keine Jahrmarktbeschallung, nicht einmal so etwas wie eine Polizeistreife kann ich entdecken. Falls es überhaupt eine bräuchte, dann ist diese hier die gelebte Alternative für Deutschland. So viel Freundlichkeit auf einem Haufen macht glücklich und lässt anderen Gedanken keinen Raum. Make love not Trump! Im Schatten ist es angenehm, über die Wiese im grellen Sonnenlicht zu laufen, treibt den Schweiß aus den Poren. Die Damen in Reifröcken, gestylten Haartrachten oder auffälligen Outfits, tragen oft einen kunstvoll ausgearbeiteten Sonnenschirm. Andere wiederum „verstecken“ ihre nackte Körperlichkeit in einem Hauch von Nichts. Zwei Schritte vor mir wandelt die pure Erotik an mir vorüber. Statt so etwas wie Scham, spricht lasziver Stolz aus ihren Augen und als ich ihr hinterher sehe, weiß ich auch warum. Eigentlich könnte man irgendwo in der Menge stehen bleiben und würde dennoch ständig eine neue Überraschung entdecken. Ich mische mich auf der Wiese direkt unter die bunten Gestalten, weil mich die Neugier treibt und ich die Nähe suche. Ich entdecke ungewöhnliche Frisuren, kann mir kunstvollen Haarschmuck aus der Nähe betrachten. Ich treffe und bestaune die Medusa in Blau, schwarze Zylinder auf kahlen Köpfen, mir begegnen eine wandelnde Mensch-Maschine und eine dunkle Gothic-Schönheit mit riesigen schwarzen Flügeln am Rücken. Der Fantasie und dem Ausdruck scheinen keine Grenzen gesetzt. Nach einer Stunde finden wir ein schattiges Plätzchen im Gartenlokal. Am Tisch nebenan unterhalten sich Grufties in bizarrem Outfit, während wir rote Limonade vom Fass trinken. Das Stimmengewirr hat viele Nuancen und noch mehr Sprachen. Die friedlichen Grufties scheinen aus Frankreich angereist zu sein, andere wiederum sprechen englisch, während unsere Gesprächspartner am Tisch sich als Bayern zu erkennen geben. Diese Vielfalt setzt sich auf den Wiesen fort. Sie ist überall zu spüren. Da sitzen zwei Vampire am üppig gedeckten Tisch. Das Posieren bereitet ihnen sichtliches Vergnügen, während ein Paar dahinter sich der dezenten Zurückgezogenheit des Hochadels hingibt. Manchmal bleibe ich stehen, staune Bauklötzer und vergesse völlig, auch ein Erinnerungsfoto zu schießen. Alle machen das hier, niemand verweigert sich. Zwei Elfenköniginnen am Rand der Wiese stellen sich immer wieder in Positur, um es den Fotografierenden leicht zu machen. Es ist ein einziges buntes Schaulaufen in Hülle und Fülligkeit, ganz ohne Catwalk, nur dem Inhalt und dem Vergnügen verpflichtet. Inzwischen habe ich das Suchen nach besonderen Motiven längst aufgegeben. Sie entstehen ganz von selbst beim Flanieren und durch Zufall. Die Motive kommen mir entgegen, lächeln mich an oder halten inne, um ein Foto zu ermöglichen. Versteckt in einer kleinen schattigen Oase wird ein märchenhaftes Paar interviewt, beide schön und verführerisch wie die Sünde anzuschauen. So viel Tüll, Stoff, Perücke und Schminke und trotzdem so viel Grazie, dass man meint, zwei Schönheiten ohne Biest entdeckt zu haben. Das Außergewöhnlichste allerdings ist eine Gruppe stolzer Fetisch-Rösser, vollständig in Leder verkleidet und die Gesichter in Masken versteckt. Mir bleibt nur, zu staunen. Wie müssen die darunter wohl schwitzen? Mir jedenfalls rinnt nach zwei Stunden die brennende Hitze von der Stirn sowie in den Nacken und die Füße werden mir schwer. Dabei scheint es, als kämen noch immer Neuzugänge in den Park, obwohl aus dem Picknick so langsam ein Dinner zu werden scheint. Zwar habe noch lange nicht alles, gleich gar nicht genug, gesehen, aber diese Masse von Eindrücken ist kaum noch zu bewältigen. Überall sitzen und flanieren sie, posieren und kokettieren, doch auf den Wegen drängt unablässig Nachschub in den Park, während ich meine Schritte zielsicher hinaus lenke. Dass dieses friedlich-romantische Picknick sich nach der Uhrzeit richtet, kann ich mir überhaupt nicht vorstellen. Eher glaube ich, dass man hier auch nachts noch, bei Kerzenschein und mit Lampions, das Fest feiern wird. Beim „Auswandern“ bestaune ich noch einen Oldtimer am Rand, lichte eine Schönheit „Ganz in Weiß“ ab, um dann das Stimmengewirr im Park hinter mir zu lassen. Noch ein gemeinsames Erinnerungsfoto für und mit einer Leipziger Rokoko-Familie im Park sowie an der Fußgängerampel ein Gothic-Paar um ein solches gebeten. Doch dann die Straße hinauf, an den Villen vorbei, dem Gefährt und dem Heimweg entgegen. Den schmerzenden Rücken in den Sitz und den Fuß auf die Kupplung gepresst, so bekommt man noch eine Idee. Ich quäle das Gefährt durch den Moloch, durch dessen Baustellen und über Umleitungen, in Richtung Volkerschlachtdenkmal, Südfriedhof. Wenn wir schon mal in meiner Geburtsstadt sind, dann sollte ein Besuch bei Cäsar und Klaus Renft noch möglich sein. Zu abendlicher Stunde ist es hier, trotz Gothic & Dark Wave, wieder Friedhofsstille. Wir stellen Cäsar die beiden roten Rosen in eine Vase, wir verweilen für Augenblicke der Besinnung auf der Fanclub- Bank und wenden uns dann, an den Gräbern von Jenni und Jürgen Hart vorbei, wieder dem Ausgang zu. Als die Räder über die Piste rollen, nehme ich ein gutes Gefühl der Entspannung und Bestätigung in mir mit nach Hause. Die Bestätigung, so wie ich bin, richtig und gut zu sein, ist mir überall im Park über den Weg gelaufen. Auch und erst recht im aufblühenden Alter. Alles das, was ich erlebt, gelebt und getan habe, war einzigartig und was ich noch anstellen werde, wird es ebenfalls sein. Leute, wie all jene im Park, Menschen, die das Miteinander der Kulturen lieben und leben, sie alle machen diese „Bunte Republik Deutschland“ aus und wenn es denn schon eine Alternative für dieses Land geben muss, dann die, an der wir alle gestalten. Gemeinsam, in Toleranz, friedlich und dann miteinander die Früchte bei einem Freitags-Picknick im Grünen genießen, während irgendwer zur Gitarre „Friday I’m In Love“ singt.