Vanilla Fudge – vom wilden Rausch des Langsamen
16.03.2014
Man nehme einen schwarzen Soul-Song mit einem Touch von Gospel, einen der SURPREMES. Man bremse den Song
von 100 herunter auf nur noch 30 Sachen und füttere das nunmehr auf über sechs Minuten gedehnte Stück mit den
epischen Klängen einer Hammond und deren klassischen Anleihen. Der Sound im Stile der aufkommenden Psychedelic -
Ära verfremdet das Original dermaßen heftig, dass der Hörer quasi die Schwelle zu einer neuen Klangwelt betritt. Genau
nach diesem Muster hat die amerikanische Band VANILLA FUDGE aus der netten Surpremes-Nummer „You Keep me
Hanging On“ (1966) einen wirklich extraordinären Welthit gemacht. Der klebrig heiße Sound der Hammond und der
schwülstige Gesang von MARK STEIN hinter den Tasten der Orgel blieben nicht ohne Wirkung auf andere Musiker. Keith
Emerson von THE NICE und John Lord von DEEP PURPLE gaben später zu, genau diese Art zu musizieren und
Fremdkompositionen wirksam zu bearbeiten, kopiert zu haben. Aber auch ohne deren „Geständnis“ sind die Parallelen
auf dem Album „Shades Of Deep Purple“ nicht zu überhören. Deren schwermütige Versionen von „Help“ (Beatles) und
„Hey Joe“ (Jimi Hendrix) auf ihrer ersten LP (1968) erinnern wie eine Blaupause an die Muster von VANILLA FUDGE, die
damit Musikgeschichte schrieben.
Selbst in die kleine DDR gelangte die Kunde vom „Rausch des Langsamen“, von den schwermütig klingenden
Orgelakkorden. Ein junger Mann namens Klaus Renft war so begeistert davon, dass er mit seiner Kapelle diese
betörende Version von „You Keep Me Hanging On“ zum Tanz für die Jugendliche spielte. Allerdings, so kurios das
vielleicht klingen mag, war damals von denen, die heute als RENFT durch die Lande ziehen, noch kein einziger dabei.
Das ist also schon sehr lange her und Typen, wie meine Freunde und ich, kamen in jenen Jahren schon sehr frühzeitig
in den Genuss, diese Musik live von der Klaus renft Combo zu hören und sich dazu rhythmisch lasziv im Takt zu wiegen.
Nur ich stand lieber auf der Galerie, um die Musiker zu bestaunen, während eine Schöne allein zu Hause blieb. War
sicher einer von den vielen Fehlern, die einen das Leben vor die Nase hält.
Heute würde man(n) sicher einiges anders machen, aber sich noch einmal dem Reiz dieser Töne, die wie zähflüssige
Lava träge und wuchtig dahin fließen, um irgendwann plötzlich zu explodieren, sich noch einmal psychedelisch
verführen zu lassen, das wollte ich mir in der Gegenwart auf keinen Fall entgehen lassen. Offensichtlich war das nicht
nur mein Gedanke, denn die ehrwürdige TANTE JU in Dresden war bestens gefüllt und einer, der im Heute den Namen
RENFT durch die Lande trägt, kam auch, um zu sehen und zu hören. Am Ende würden wir alle wissen, es hatte sich
wirklich gelohnt.
Manchmal allerdings hat jemand vor den Genuss die Überraschung, in Form eines Gitarre spielenden LORD BISHOP plus
Drums und Bass, platziert. Das ist nicht schlimm, aber für ergraute Althippies und weit Angereiste ein zusätzliches
Zeitpolster, das überwunden werden will. Bei lustvoll und übermütig laut gespielten Blues- und Gitarrenexzessen,
darunter eine annehmbare Version von „Hey Joe“ in der Art eines Jimi Hendrix gespielt, verging diese Zeit dann doch
ziemlich schnell. Der Mann ist ein Rocker vor dem Herrn, der wild, leidenschaftlich und äußerst provokant in die Sex-
Saiten greift, wie jeder von einer Inschrift auf seinem Wah-Wah-Pedal ablesen konnte: „Fuck money it’s eval.“ Recht
hat er!
Sie machen es theatralisch. Es wird dunkel im Saal und auf der Bühne zerschneiden weiße Spots das Dunkelblau, aus
dem sie hervor stechen, als sich die vier Herren zu düsteren Klängen auf die Bühne schleichen. Das Licht geht an und
mit den ersten Tönen weiß ich, da vorn spielen VANILLA FUDGE. Es ist dieses langsame Pulsieren, dazu das schwere
Stampfen der Rhythmen, von dem sich langsam die Orgel mit ihren fetten Klängen abhebt, um daraus in Zeitlupe
„Ticket To Ride“, als wäre man von jetzt auf gleich in Trance, einen der frühen Beatles-Hits, zu modellieren. Über dem
zähflüssigem Sound der Band erhebt sich glasklar die Stimme von VINCE MARTELL an der Gitarre, unterstützt von
MARK STEIN an den Tasten, alle vier gemeinsam formen in perfekt ausgefeilter Vokalharmonie den Chorus dazu. Wenig
Aufwand, aber beeindruckende Wirkung! So macht man das, denke ich und die Gitarre jammert ihr Solo dazu, in das
hinein so ganz nebenbei noch „Day Tripper“ eingeflochten wird. Willkommen im psychedelischen Underground, den man
einst „progressiv“ nannte!
Nach dem gleichen Muster erklingt die Soul-Nummer „People Get Ready“ von Curtis Mayfield und auch ein steinalter Hit
der Zombies, „She’s Not There“, wird auf diese Weise in ein zauberhaft anderes Kleid gesteckt und ich erinnere mich
nebenbei, dass dereinst auch die Band von Uve Schikora den alten Hit aus der Feder von Rod Argent, mit einem
deutschen Text versehen, zum Tanz spielte. Das war noch zwei oder auch drei Jährchen vor der „progressiven“ Zeit. Auf
der Rampe vor mir wechseln expressive Gitarren- und Orgelparts mit eindrucksvollem Satzgesang und der Schlagzeuger,
CARMINE APPICE, erweist sich so ganz nebenbei als exzellenter Sänger und Dirigent der Massen. Die Luft ist inzwischen
gut angewärmt, den Akteuren auf der Bühne und denen, die davor stehen, steht die Hitze in ihre Gesichter geschrieben
und die Schweißtropfen Perlen beim Nicken zu „Bang Bang“, Sonny & Cher lassen grüßen, von Stirn und Nacken
Richtung Boden. Rockmusik kann man eben nicht nur hören. Inzwischen haben VANILLA FUDGE die komplette erste
Seite ihrer gleichnamigen LP von 1973 für uns gespielt und auch in chronologischer Reihenfolge. Das alles vierzig Jahre
nach meiner Jugend. Wo ist die Zeit nur geblieben?
Jede Generation hat ihre Mode, ihre eigene Musik und vieles andere, das sie prägt. Bei mir sind es die Beatles und alles,
was mit ihnen und danach kam. Angefangen bei den langen Haaren bis zu der Idee, unbedingt die Welt verbessern zu
wollen. Manchmal gelingt es, wenn auch unbewusst, das alles in einem Lied zu entdecken. „Eleneor Rigby“ ist nur eins
von ihnen und als VANILLA FUDGE ihre Version des Klassikers anstimmen, geht mir all diese gewaltige Sehnsucht durch
die Venen meines Körpers: „All the lonely people where do they all come from.“ Den Zeitgeist von damals verpacken
VANILLA FUDGE in ein gedehntes Geflecht von verzwickten Rhythmen und klassizistisch wuchtigen Akkorden, aus
denen der ganze Überschwang und die Sehnsucht heraus zu quellen scheinen, so wie eben Lava aus den Spalten der
Erde, heiß, zähflüssig, verführerisch und gefährlich. Was für eine laszive und verlockend wirkende musikalische
Melange!
MARK STEIN an den Tasten der Hammondorgel hat wohl die seltene Gabe, das Potential eines Liedes nicht nur zu
erkennen, sondern auch, ohne die Grundidee zu verletzen, die Komposition mit vielen kleinen Ideen und Facetten
aufzuwerten, so wie es Autoliebhaber vom Tuning kennen. Das Ergebnis ist immer noch ein Auto, in diesem Fall ein
Lied, das man als solches erkennt, bei dem man sich aber an der inhaltlichen Bereicherung anders und neu erfreuen
kann. Das beherrschen nur wenige, aber bei VANILLA FUDGE wurde es zum Markenzeichen, das andere zu kopieren
versuchten.
Nach über einer Stunde sind wir alle in einen Rausch des Musikhörens, des Staunens und der totalen Begeisterung
versetzt. Die Perfektion, mit der dieses Feuerwerk instrumentaler Finesse langsam vor uns abgefackelt wird, ist wahrlich
beeindruckend. Der eigentliche Höhepunkt beginnt jedoch erst jetzt. Die beiden folgenden Stücke „Some Velvet
Morning“ und Season Of The Witch“ glänzen ja ohnehin schon als Songperlen für die Ewigkeit. Der eine, 1967 von Lee
Hazlewood geschrieben, glänzt durch seine düster schöne Stimmung, und der andere, von Donovan gezaubert und
durch Julie Driscoll zu Weltruhm gelangt, ist eher geeignet, einen das Gruseln zu lehren. VANILLA FUDGE führen beide
Songs live zu einer überlangen Suite zusammen und nutzen diese Gelegenheit, alle Emotionen aus dem Material zu
locken, die sich darin verbergen. Die ausgedehnten Minuten geraten beinahe zum Exzess im Rausch des Langsamen. An
der Orgel findet MARK STEIN immer wieder neue Klangbilder, um Stimmungen zu schöpfen, die uns alle mit auf die
Reise durch psychedelische Klangerfahrungen, wie aus den 1970er Jahren, nehmen. Bei den solistischen Einlagen kennt
die Begeisterung kaum noch Grenzen und doch muss noch eine Steigerung her. Denn kaum ist dieser lange Riemen
beendet, folgt mit „Shotgun“ eine weitere Nummer und hier entsteht unter den wieselflinken Händen von CARMINE
APPICE hinter der Schießbude ein Klanggewitter, dass der Bezeichnung Solo alle Ehre macht. Der Mann ist ein echter
Derwisch und Kobold gleichermaßen, dem man das Vergnügen, mit seinen Sticks umzugehen, wirklich bei jedem seiner
Schläge ansieht und der keine bekannte Spielerei auslässt, uns das Staunen zu lehren. Am Ende seiner Mini-Show steht
er mit seinen beiden Stöcken vorn vor dem Mikrofon und schlägt sie rhythmisch in allen möglichen Varianten - unten,
oben, mittig, sonstwo - aneinander und freut sich diebisch, dass unsere Augen ihm nicht folgen können. Endlich mal
wieder ein Schlagzeugsolo, das diesen Namen auch wirklich verdient!
Von VANILLA FUDGE gibt es eine Platte, „Out Through The In Door“ (2007), auf der sie ausschließlich ihre eigenen
Versionen von Led Zeppelin – Klassikern präsentieren. An diesem Abend spielen sie uns „Dazed & Confused“ und noch
einmal lassen sich Orgel und Gitarre zu Solo-Einlagen und wir uns vor der Bühne zu Begeisterungsausbrüchen
hinreißen, um die Musiker zu einer Zugabe zurück auf die Bühne zu locken, denn ein Song fehlt natürlich noch. Wir
wollen „You Keep Me Hanging On“ hören und den bekommen wir auch und zwar genau so, wie ich ihn von der Platte in
Erinnerung habe. In solchen Momenten stehe ich einfach nur noch da und lasse den Sound dicht an mich heran, um
vielleicht noch einmal für Momente das irre Gefühl dieser Unbeschwertheit und Leichtigkeit, die sich im Klang
ausbreitet, zu genießen. Kaum etwas ist schöner, als Emotionen ausleben zu können.
Es ist ein Fest der berauschenden Töne aus einem anderen Jahrhundert, das hier in der TANTE JU von einer Meute
grauhaariger Beatniks gefeiert wird. Viele haben diese Zeit erlebt, viele kennen die Lieder noch aus dem Dampfradio
ihrer Eltern und einige haben auch ihre LP-Schätze mitgeschleppt, um sie natürlich von den drei Originalmusikern, plus
PETE BREMY, der eindrucksvoll die tiefen Bass-Töne zupfte, signieren zu lassen. Wir haben anschließend die kleinen
Schätzchen und die Erinnerung an ein begeisterndes Live-Erlebnis mit nach Hause genommen, 40 Jahre später zwar,
aber nicht zu spät, wie einer neben mir formuliert hat. Es wird nicht das letzte Konzert dieser Art gewesen sein, das ist
sicher. Einige Wünsche sind noch immer nicht befriedigt, doch zum Glück gibt es ja die TANTE JU in Dresden.