Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Todd Day Wait’s Pigpen live im Papermoon 25.04.2018 Man stelle sich nur mal vor, ein Musiker hier im neuen Lande verscherbelt seinen Haushalt, kündigt Gas, Wasser und die Müllabfuhr, schnappt sich seine alte „Klangwunder“Gitarre made in Markneukirchen, setzt sich in seinen aufgerüsteten Trabbi und düst damit jahrelang durch die Republik. Er spielt auf Jahrmärkten, Volksfesten, Dorf-Muggen und privaten Feiern. Er trifft Musiker, spielt mit ihnen, lernt von ihnen und findet so zu einem eigenen Stil, einer Synthese zwischen Volksmusik, Straßenlied und alten Balladen, „typisch deutsch“ eben. Dann nimmt er noch, auf eigenes Risiko und mit allen neuen Erfahrungen, eine Platte auf und geht damit auf Tour. Diesmal in ganz Deutschland und wird bekannt. Es klingt fast wie ein Märchen, aber für viele Musiker in den USA ist das Alltag und Lebensmaxime. In alten Zeiten sowieso und heute findet man diese Typen noch immer. Einer von ihnen heißt TODD DAY WAIT und ist heute mit seiner Band PIGPEN im Papermoon von Halberstadt, quasi „auf Durchreise“. Diesen Kerl (und seine Musik) kann ich mir einfach nicht entgehen lassen. Es wäre wirklich die blanke Sünde, einen jener legendären Straßen- und Country-Musiker einfach so durchziehen zu lassen. Im Papermoon treffe ich an diesem Mittwochabend nur wenige Gäste. Die dort am Tresen sitzen und quasseln, sind die Musiker. Mittendrin TODD DAY WAIT, ein hoch aufgeschossener Typ, der ansonsten keines der gängigen Klischees bedient. Keine Jeans, kein Baumwollhemd, auch keine Weste, nur einen Hut, der den Vorstellungen entspricht. Wäre sein Haar nicht zu einem dicken Knoten gebunden, wäre vielleicht noch ein Vergleich mit Willie Nelson möglich. Als ich ihn nach der Bedeutung seines Namens, vor allem „Day & Wait“ frage, grinst der Ami und dann verstehe ich kein Wort mehr. Erst beim zweiten Mal und als ich ihn bitte, etwas langsamer zu reden, kommen wir ins Gespräch. Jetzt weiß ich, er heißt wirklich so. Dann klopft er mir auf die Schulter, hängt sich das Gitarrenband über die Schulter und ein authentischer Kneipen- und Country-Abend, fast mitten im wilden Osten, nimmt seinen Lauf. Er spielt mit so etwas wie einer Wandergitarre, natürlich ohne Kabel. So ein Stück Holz, mit dem hier niemand auf die Bühne gehen würde. Neben ihm steht einer mit der Geige und auf der anderen Seite zupft der nächste eine Pedal-Steel- Guitar, beide mit Kabel. Dahinter steht ein Bassist mit „seiner Oma“ und ein vierter hat einige runde Dinge, die als Schlagwerk dienen. Diesem Instrumentarium entlocken sie eine alte Melodie von Jimmy Rodgers, dem großen Vater der Country-Music, um danach mit dem „Early Morning Blues“ ein Stück von TODD zu spielen. Es ist unglaublich, aber dieser Musiker tut nicht einfach so, als würde er Country spielen, der Mann lebt, was er da spielt und, amerikanischer geht’s nicht, zwischen den Zähnen und Schnurbart heraus presst und knautscht, ohne einen Kaugummi zu benutzen. Slang von der Landstraße des amerikanischen Südens in seiner Urform und ich bin dabei! Ich kann mich nicht erinnern, jemals solch ursprüngliche Musik aus den Staaten live gehört zu haben. Da steht so ein Typ mit seinen Kumpels und singt uns lauter Geschichten aus seiner Heimat und von seinem Leben. Es ist völlig egal, ob es ein steinalter Klassiker ist oder einer seiner eigenen Songs. Kein Unterschied. Weder inhaltlich und gleich gar nicht in der Ausdrucksweise. Ich sitze einfach da, staune, er sieht es und grinst. Es ist so etwas wie HillyBilly, HonkyTonky, Blues & Soul, klingendes Leben, das unsereins allerdings sehr fern und erst recht fremd ist. Da ist die Geschichte von „Two Dollars In The Juke-Box“, die Leute wie ich nur aus dem Kinosessel kennen oder „I Don’t Know Who To Blame“ (Ich weiß nicht, wem ich die Schuld geben soll), in denen Begebenheiten stecken, die er selbst irgendwo „on the road“ erlebt oder vielleicht gehört hat. Es ist schon ein großes Glück, einen Musiker aus den Tiefen und Weiten Amerikas, fernab des Mainstream und der Charts, hier anzutreffen und die urbane Kraft alter Songs, von Leuten, die man kaum kennt, und solche kantigen eigenen Lieder zu hören. In diesen zwei Stunden vermitteln mir diese Songs ein Gefühl von dem, wovon später ein Teil in die Rockmusik eingeflossen ist: Ursprünglichkeit und Schlichtheit. Direkt vor mir sitzt NIKOLAI SHVEISTER aus New Orleans sowie mit einem Rauschebart, wie ich ihn von Doug Clifford (CCR) kenne, und zupft die Saiten der Pedal-Steel-Guitar. Er verzieht kaum eine Miene, aber seine Soli sind traumhaft schön. Mit der Geige weiß LYLE WERNER umzugehen. Allerdings wäre wohl jeder Gegenlehrer entsetzt, wie er mit dem Instrument umgeht. Hinter dem minimalistischen Schlagzeug sitzt BENJI BOHANNON, wie mir schient, der Spaßvogel im „Schweinestall“, denn nichts anderes heißt PIGPEN. Als Gast am Bass zupft DAVID HAGEN aus Berlin die dicken Saiten, weil „die Oma“ nicht so gern im Flugzeug mitfliegt. Da es so etwas wie eine Set-List nicht gibt, wird manchmal abgestimmt, was als nächstes gespielt wird und TODD gibt dem Bassisten fix einen Hinweis, was er spielen könnte. Man versteht sich blind und wir paar Hanseln auf den Stühlen haben eine Menge Spaß, wenn Songs wie „No Matter How She Done It“ oder „What’s Wrong With The Truth“ gespielt werden. Nicht einen einzigen habe ich jemals zuvor gehört und doch kamen sie mir wie alte Bekannte vor. Das haben alle Melodien gemeinsam, die irgendwann zu Volksliedern wurden. Das schlichte „Where Is The Circus? (Here Comes The Clown)“ von Hank Thompson aus dem Jahre 1966 oder „Drivin’ Nails In My Coffin“ sind so eine alte Nummer, die der Mann mit dem Hut für uns singt. Irgendwer hat mal formuliert, dass die alten Country-Songs so etwas wie der „Blues des weißen Mannes“ wären, mit denen er sich seine Sorgen, sein Liebesleid, seinen Schmerz und auch seine Freuden von der Seele singen konnte und vielleicht auch musste. Sie in ihrer Ursprünglichkeit und einfachen Schönheit beinahe original und live zu hören, ist grandios! Beinahe bereue ich, heute mit dem Auto gefahren zu sein. Die halbe Stunde hätte ich auch laufen und daher ein Bierchen trinken können. Das hätte gut zur Musik gepasst und zu der Stimmung, die sich im Papermoon breit gemacht hat. Wir schunkeln mit, wir pfeifen und klatschen und manchmal reden wir auch einfach dazwischen. Die Atmosphäre ist locker wie in irgend so einer Scheune im Süden der USA, wo sie sitzen, musizieren und tanzen. Letzteres ist hier schlecht möglich, aber meine kaputte Hüfte hat es wenigstens versucht. Als dann TODD DAY WAIT sein eigenes und letztes „Hi Dee Hi“ gesungen und wir alle mitgemacht haben, ist das Finale erreicht und weil er uns fragt und wir ihn bitten, singt er zum Abschluss noch „Little O’Wine“ und lässt „The First Train“ durch die gute Stube rattern. Genial, aber dann ist Schluss … doch als einige schon gehen wollen, setzt sich der Amerikaner einfach zu uns und schenkt uns noch einen von der Sorte, die unter die Haut gehen. Ein Lagerfeuer wäre jetzt eine gute Idee, während wir dem Mann in unserer Mitte lauschen und wieder einmal weiß ich, warum ich die intimen Club-Muggen nicht mehr missen möchte. Nirgendwo sonst kommt man den seltenen Originalen noch so nah, wie in diesen Momenten und nur hier genieße ich Musik intensiv und direkt. Todd und sein „Schweinestall“ sowie das Papermoon in Halberstadt machten es möglich. Beim nächsten Mal komme ich per pedes!