Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Zerbrechliche Eleganz - Tiny Vipers im Thalia Dresden 10.08.09 Was macht jemand, der am Wochenende ein tolles Konzert besucht und sich auch sonst viel mit seinem Lieblingsthema Rockmusik & Co. beschäftigt hat? Genau, er geht auch am Montag zu einem Konzert! Was denn sonst. Ein kleines und schnuckeliges Kino in der Dresdner Neustadt mit einer ziemlich interessanten Historie und einem auffälligen Ambiente. Alles sehr intim, sehr einladend und sehr entspannend. Andere kaufen sich für 6,00 Euro eine Packung Glimmstengel, ich erstehe ein Ticket für ein Konzert zum gleichen Preis. Im „THALIA“ ist eine junge Songschreiberin, Gitarristin und Sängerin aus den USA angekündigt. Eine, deren Namen ich nicht kannte, doch das will nichts heißen. Je mehr ich über die Spielarten des Rock weiß, je mehr ich zu kennen glaube, desto größer die Chance für eine neue Überraschung. TINY VIPERS, eigentlich Jesy Fortino, ist Mitte 20, stammt aus Texas und lebt in Seattle, in dem Ort, aus dem der GRUNGE gekrochen kam und wo JIMI HENDRIX zu Hause war. Dort wird man auf sie aufmerksam und 2007 veröffentlicht sie ihre erste CD „Hands Across The Void“. Inzwischen liegt mit „Life On Earth“ der aktuelle Longplayer aus diesem Jahr vor. So einfach klingt das, war’s aber sicher nicht. Ich bin auf sie gestoßen, weil ich für mich selbst ständig auf der Suche nach etwas anderem bin. So habe ich SERENA RYDER für mich entdeckt, weil diese so faszinierend Leonard Cohen und sich selbst singt und nun eben auch TINY VIPERS, weil sie, auf musikalische Vorlieben angesprochen, neben anderen ausgerechnet YES und die INCREDIBLE STRING BAND nennt. Da bin ich eben hellhörig geworden, denn beide zählen schon seit Jahrzehnten auch zu meinen Favoriten und stehen bei mir im Regal. Nach einem heftigen Gewitterguß, der mich auf der Fahrt nach Dresden begleitet hat, finde ich das „THALIA“ in der Görlitzer Straße relativ schnell. Zum kleinen Kino gehört ein „Caffee & Cigaretts“, in dem die Zeit bis zum eigentlichen Konzertbeginn wie im Fluge vergeht. Da vorn auf der Bühne nimmt ein unscheinbar wirkendes Persönchen, eine zierliche junge Dame auf einem Stuhl Platz und nuschelt im typischen Amerikanisch „Thanks for coming“ und während die meisten überlegen, wie sie reagieren sollen, perlen schon die ersten Töne in den Raum. Was dann eine reichliche Stunde lang passiert, habe ich so noch nie erlebt. Die junge Lady spielt die Gitarre nicht auf eine uns langläufig bekannte Weise. Da brechen keine Akkorde aus den Saiten und die erhofften hochtechnischen Soli bleiben aus. JESY FORTINO zelebriert die einzelnen Töne und Klänge, fügt ihnen die Schwingungen der tiefen E-Seite zu, läßt die leisen, beinahe minimalistischen Klangeflechte leben, sich entfalten und über allem schwebt eine Stimme, die leise und beschwörend, beinahe entrückt, erzählt. Sie läßt uns die Welt erleben, mit „Eyes Like Ours“ (Augen wie unsere) und tut dies wie einer ihrer Songs in „Slow Motion“ (Zeitlupe). Die zierlichen Finger sind über die Klänge weit gespreizt, liegen wie eine Spinne auf den sechs Saiten der Gitarre, als wollten sie über deren Hals kriechen. Jedes der vier „Beinchen“ lebt für einen anderen Ton. Manchmal setzt sie, so bei „Development“, wie kleine Zaubereien, einen Flageoletton (Oberton) darüber und läßt ihn schwingen. Wo sie den Finger dafür hernimmt, scheint ein Rätsel. Das alles geschieht ohne fühlbaren Zeitdruck, weit im Raum, nicht von dieser Welt und manchmal, wie bei „Dreamer“ und „Time Takes“ kann das dauern und die Zuhörer lassen sich entspannt auf eine Tonreise ein. Tief in meinen Sessel versunken, kann auch ich mich schweben lassen, einfach nur genießen und entspannen, obgleich ab und an die Neugier siegt und ich mich auch auf die Worte zu konzentrieren suche. Das ist auch so bei „Life On Earth“ und sinnigerweise heißt der folgende Song auch „Life On Earth Continues“. Beinahe ein Songzyklus, eine Wanderung der Gedanken und Emotionen. Die Songs scheinen von zwei oder drei Akkorden zu leben, manchmal sind es nur drei Töne, die aus den Kompositionen ein musikalische Gebilde machen, das sich langsam und eindringlich wiederholt, von einem weiteren Klangtupfer ergänzt wird. Der Begriff vom Fingerpicking, bei dem man sich meist ein schnelles Saitenzupfen aller Finger vorstellt, bekommt hier so etwas wie eine ursprüngliche Bedeutung, denn jeder Finger zupft, beinahe behutsam und zerbrechlich, jeden Ton fühlbar und fügt ihn mit weiteren zu einer Klangsinfonie. Selbst Pausen scheinen ein Klang zu haben. Das ist betörend, verführerisch und entrückend schön. So müssen Schamanen gezaubert haben, denke ich für mich. Irgend so etwas strahlt von ihr aus. Wo nimmt dieses zierliche Weib diese Inspiration her? Die einzelnen Stücke fühlen sich an wie Suchen und Entdeckung, wie leises Fragen nach Sinn und Befindlichkeiten. TINY VIPERS will nicht unterhalten oder ablenken vom Geschehen, sie steckt uns mitten hinein und geht mit ihrem Publikum leise auf die Suche und nur wenn man wirklich will, kann man auch entdecken. Sich selbst, andere, das Leben, UNS. Nach einer Stunde hat sie ihre aktuelle CD „Life On Earth“ komplett präsentiert und die Spitzen ihrer zierlichen Finger lassen vom ständigen Druck auf die Saiten tiefe Narben erkennen, die sie uns da vorn lächelnd zeigt. Eine Zugabe lang halten die Finger noch durch, für ein Stück aus „Hands Across The Void“. Ihr letzter Kommentar ist wieder „Thanks for coming“ und dann verschwindet die Gitarre wieder in einem Koffer, so als wäre nichts gewesen. Es ist schon paradox zu merken, daß diese leisen Töne eindringlicher und länger wirken können, als die lauten Riffs einer verzerrten Rock-Gitarre. Der Nieselregen in Dresden, der mich zum Auto begleitet, paßt dazu, und fast tut es mir leid, daß ich den Weg nach Hause nicht laufend bewältigen kann, um den Tönen und Klängen in meinen Kopf Raum und Zeit zu geben, ihnen nachzuhängen. Manchmal ist die Welt zum Glück doch anders….