Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Sofia Talvik – schwedische Nächte auf der Huysburg 29.12.2016 Zwischen den Jahren, habe ich mir sagen lassen, so nennt man die Tage von Weihnachten bis zum Neujahrstag. Jetzt kehrt Ruhe ein und so mancher blickt zurück. Für mich ist es auch wie ein leises Abschiednehmen, seitdem sich die Einschläge mehren und langsam näher zu kommen scheinen. Am schlimmsten war es, wenn so etwas im engsten Freundeskreis geschah und ich es nur fassungslos zur Kenntnis nehmen konnte. Manchmal eben auch unter Tränen. Deshalb heißt „zwischen den Jahren“ für mich auch wieder nachzudenken über den Wert dessen, was mein Leben wirklich ausmacht: Liebe, Familie, Freundschaft, Ehrlichkeit Mit den grauen Haaren änderten sich meine Begehrlichkeiten. Das habe ich ganz besonders in diesem Jahr gespürt. Ich versuche inzwischen, intensiver zu leben, ohne die Jahre zu zählen. Freunde sind inzwischen gut sortiert, Neider ignoriert und die es so wollten, auch verabschiedet. Es zählt wieder, was mir wichtig ist. Wieder einmal besuche ich die Huysburg, die im Dunkel des Winterabends kaum zu sehen ist, wären da nicht die hell erleuchteten Fenster vom Kaisersaal. Als Gast hat sich SOFIA TALVIK aus Schweden angekündigt. Drinnen zündet einer der Brüder des Ordens einige Holzscheide im Kamin an. Beinahe fühle ich mich wie ein Zeitreisender, stünden hier nicht die Stuhlreihen, weiß überzogen, in Reih und Glied. Schwedische Leichtigkeit trifft deutsche Gründlichkeit. Ich wähle die erste Reihe, auch um all das kalte Weiß hinter mir zu wissen. Vor mir das Instrumentarium einer „sternenklaren schwedischen Nacht“, so die Ankündigung für diesen Abend. Zum Zeremoniell gehören hier einige Worte von einem der Ordensbrüder, der diese „Aufgabe“, wie stets, mit Stil und unaufdringlich löst. „Gefällt mir“ sehr! Zwischen den Jahren ist, wenn der Winter kommt und so heißt auch das erste Lied des Abends „When Winter Comes“, das auf ganz leisen Sohlen, so wie nachts die Schneeflocken, zu uns klingt. Die blonde zierliche Schwedin zupft die Saiten ihrer Gitarre sehr dezent und auch Geige und Bass halten noch im Hintergrund. Einem filigranen Klangteppich gleich, legt sich eine Melodie unmerklich über uns, nur die Stimme von SOFIA TALVIK traut sich aus dem zarten Klanggewebe hervor. Einfach wunderschön und damit wir das auch inhaltlich nachvollziehen können, gibt es zuvor eine gesprochene Übersetzung von REGINA MUDRICH, der „Lady In Black“ an der Violine. Fotos zum Vergrößern bitte anklicken. Wer Schweden sagt, meint nicht nur ABBA oder Astrid Lindgren, sondern ganz sicher auch den großen Dichter Hans Christian Andersen und sein Märchen „Das kleinen Mädchen mit dem Schwefelhölzchen“. Ein wenig davon steckt nämlich in „A Berlin Xmas Tale“ von SOFIA TALVIK. Sie steht mit einem langen bunten Kleid, das mich an die harmonische Zeit des Flower Power und der Hippies erinnert, und singt den Song in einer Art, als wäre die Melodie mit „American Pie“ von Don McLean verwandt. Für einige Momente fühle ich mich emotional genau dort hinein versetzt. Das sind ja auch meine Akkorde, meine Gefühle, die in mir Erinnerungen auslösen. Toll gemacht! Als sie wenig später ein altes schwedisches Volkslied für uns vorträgt, fließen meine Erinnerungen weiter. „Min Rose, min Lilja“ singt sie a capella und mit einer Intensität, das einem wirklich schwindlig werden kann. Erst jetzt bemerke ich, was für eine Energie ihre Stimme ausstrahlt, wie sie kleinste Nuancen zu gestalten und fast schon verborgen geglaubte Gefühle freizusetzen vermag. Plötzlich ist sie nur noch SOFIA TALVIK und niemand sonst. Umwerfend! In diesem Moment weiß ich, dass eine der Vinylscheiben am Stand mir gehören wird. Zwischen den Liedern erzählt sie kleine Episoden darüber, wie einige von ihnen entstanden sind. Von einer Tour durch die USA, vom Regen auf das Dach ihres Caravans und wie sie so zu „A Matter Of The Hearts“ (eine Angelegenheit des Herzens) inspiriert wurde. Vielleicht hat die Lyrik dieses Songs etwas damit zu tun, dass die Vereinigten Staaten einstmals aus einem Einwanderungsland entstanden und auch wir Europäer gern vergessen, dass es lange vor uns schon Völkerwanderungen und die, ach so wahnsinnig christlichen, Kreuzzüge gab. Ein wenig mehr Demut stünde uns allen gut zu Gesicht! In manchen Momenten gelingt es ihr sogar, wie bei „Cold Cold Feet“, uns zum Mitsingen des Refrains zu bewegen, während sie mit ihren Füßen den Rhythmus dazu in die Bodenplatte stampft. Zwei Mal legt sie ihre Westerngitarre zur Saite und begleitet sich selbst am Piano, während REGINA MUDRICH die Saiten ihrer Violine einfühlsam streichelt und ein Bass, gespielt von MARTIN ZEMKE, dezent dazu swingt. So entsteht eine intime Atmosphäre, die durch die Wirkung des Gesangs von SOFIA TALVIK auf uns alle übertragen wird und sich unter der Haut einnistet. Ich selbst glaube ein wenig Anlehnung an die Phrasierung von Joni Mitchell und den zerbrechlichen Folk-Swing von Nick Drake zu entdecken. Aber das ist ein rein subjektives Empfinden, was etwas mit meinen Hörgewohnheiten zu tun hat. Meist schwingt ein Hauch von Folk und Americana in ihren Liedern und „When It Rains On Christmas Day“ kommt sogar im Dreivierteltakt eines Country-Songs daher. Ich bin schlichtweg begeistert. Im Laufe des Abends kommt sie mir mit ihren Liedern mehrmals emotional nah. Mit einer besonderen Version von „Hallelujah“ erinnert sie an Leonard Cohen. In dem Moment vermag ich kaum zu atmen, weil plötzlich all die anderen großartigen Melodien des verstorbenen Kanadiers in mir wach werden. Und auch das faszinierende „Big Sky Country“, der Titelsong ihrer aktuellen Scheibe, hat diese positive Wehmut und Sehnsucht nach Gelassenheit. Man kann regelrecht fühlen, wie die Weite des Landes in so einem Lied bildhaft wird. Mein absoluter Höhepunkt jedoch kommt erst nach dem Schlussapplaus als Zugabe. Wie sie dem indianischen „Skywalker“ von Buffy Sainte-Marie sein wildes Leben einhaucht ist einfach nur der Hammer! So etwas haben die altehrwürdigen Mauern sicher noch nie gehört. Mir ist, als würde die zierliche Schwedenschönheit erst jetzt richtig in Fahrt kommen, als wäre die Stimme von SOFIA TALVIK plötzlich von der Leine gelassen. Was für eine großartige Performance! Die fragile Steigerung allerdings erleben wir, als einige Besucher bereits aufstehen und gehen wollen. Ob wir noch ein altes schwedisches Volkslied hören möchten, fragt sie, und lässt uns alle noch einmal staunen. „Emigrantvisa“, so erfahre ich später, ist ein Lied über schwedische Auswanderer, die in der Ferne neues Lebensglück suchten. Dieses berührende Kleinod „zwischen den Jahren“ geht schon allein deswegen nah, weil die Bezüge zur Gegenwart sich förmlich aufdrängen und die Intensität, mit der die Künstlerin das Lied a capella vorträgt, die Gefühle noch einmal richtig aufwühlt. Ein berührender Song, eine Mahnung zur Menschlichkeit in turbulenten Zeiten. Respekt, meine Erwartungen an diesen Abend sind von einer sehr charmanten und bescheidenen SOFIA TALVIK weit übertroffen worden. Als sich der Kaisersaal im Kloster Huysburg leert, suche ich das Gespräch, um noch ein wenig mehr zu erfahren. „Zwischen den Jahren“ scheint vielleicht auch für „zwischen den Lebensabschnitten“ stehen zu können. Man muss einerseits etwas loslassen können, um andererseits reich beschenkt zu werden. Bei mir sind es neue Erfahrungen, Begegnungen, aus denen Freundschaften werden könnten und eine neu entdeckte Facette Musik, die ich als Erlebnis und als Vinyl mit nach Hause nehmen darf. Dafür bin ich SOFIA TALVIK, sowie den beiden musizierenden ARTgenossen, die, gemeinsam mit den Brüdern in den schwarzen Kutten, diese wundervollen Abende organisieren, sehr dankbar. Ich freue mich auf ein Wiedersehen spätestens im März, wenn draußen die Natur wieder aufwachen wird.