Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Die Seele der Saiten – Sierra Noble live 22.09.2017 Ab heute übernimmt der Herbst die kalendarische Regie in der Natur und die scheint sich sogar nach diesem Datum richten zu wollen. Tagsüber nämlich lässt die Sonne alle Blätter und Früchte durch das Farbenspektrum hindurch glänzen und strahlen. Noch gibt es viel Grün, aber dazwischen leuchtet es schon grellgelb oder weinrot hervor. Auch die Berghänge, die sich hinter Blankenburg hoch zum Harz aufbäumen, zeigen mir viele solche bunte Flecken, während ich von Halberstadt den Bergen entgegen fahre. Ein Konzert mit einer jungen Lady aus Kanada ist angekündigt. Sie soll Country, Folk und Rock auf ganz eigene Weise miteinander verbinden und zu ihrem Markenzeichen gemacht haben. Im alten E-Werk von Blankenburg wird heute SIERRA NOBLE mit ihrer Band auf der Bühne stehen und ich will unbedingt dabei sein, will erfahren, ob der vorauseilende Ruf aus dem Netz auch hier die Bestätigung finden wird. Das historische Gemäuer am Rande der Altstadt ist zum Bersten voll. Beifall brandet auf, als die Band das Podium betritt, zu spielen beginnt. Der warme Klang einer Fiddle mischt sich zwischen Gitarre und Bass hinein. Sie kommt durch das Publikum, hat ihre Fiddle unter dem Kinn, strahlende Augen und ein herzhaftes Lächeln im Gesicht. Der Song heißt „Flame“, ein Funke springt sofort über und meine Füße beginnen zaghaft, zu wippen. Doch schon beim nächsten Song „What Planet Are You Living On“ lässt mich der Rhythmus nicht mehr los, die Harmonien schmeicheln und eine einfühlsame Melodie möchte, dass man sie mitsingt. Diese Musik erinnert mich an große Namen, an einprägsame Songs und doch steht da vor mir eine, geboren 1990, die diesen Staffelstab längst in der Hand hält. Bei ihrem dritten Song „Coming Home To Say Goodbye“ hat sie mich mit ihrer hellen Stimme und ihrem Temperament inzwischen um den Finger gewickelt. Diese junge Kanadierin ist eine, die mit ihren 27 Lenzen bereits die Hälfte ihres noch jungen Lebens ausschließlich mit professioneller Musik ausgefüllt hat. Das Album „Spirit Of The Strings, ausschließlich instrumental, schon 2005 nur mit der Fiddle eingespielt, sowie ihre aktuelle Scheibe „City Of Ghosts“ geben eine leise Ahnung davon, was für ein Talent über den großen Teich für eine Tour gekommen ist. SIERRA NOBLE spielt das für Rock- oder Popmusik eher noch ungewohnte Instrument wie eine Göttin, in der sich ein Teufel zu verstecken scheint. Nachdem sie uns mit einigen Liedern aus ihrem aktuellen Album aufgeheizt hat, erzählt sie ein wenig von ihrer Leidenschaft für dieses Instrument, von der Möglichkeit, es in seiner ursprünglichen Spielart, dem Bluegrass, und der „native music“ zu nutzen. Sie setzt sich auf einen Hocker und dann erleben wir staunend „footstomping music“ auf vier Geigensaiten. Das fühlt sich an, wie schnelle keltische Jigs und Reels zu Boogie-Woogie Rhythmen aus den Saiten gerissen, während sie mit ihren Füße, immer schneller werdend, die Bühnenbretter fast zu Kleinholz zertrampeln möchte. Das wahre Geigeninferno bricht über uns heran und die begeisterte Menge johlt, kreischt und pfeift dazu. An diesem Abend im Blankenburger E-Werk brennen sämtliche Sicherungen durch, weil eine kleine Hexe mit wallendem Haar und einer breiten Hutkrempe, die aus Kanada eingeflogen kam, die vom Herbst müden Harzer zu Höchstform anstacheln kann. Es gibt sie noch, die jungen Stars, die gierig sind und voller Energie mit ihrem Publikum zu kommunizieren verstehen. Der blanke musikalische Wahnsinn auf nur vier Saiten, den sie “Spirit Of The Strings” (Die Seele der Saiten) nennt! Und dann kommt sie wie aus dem Nichts mit einem Song um die Ecke, der mir die kleinen Haare auf der Haut steil aufstellt und meine Augen feucht werden lässt. Sie hat „No Good Reason“ einem Freund gewidmet, den der Krebs nicht leben ließ. Mit dem Gitarristen ihrer Band, KRIS ULRICH, singt sie, die wunderbare MARIE-JOSÈE DANDENEAU am Bass grummelt die tiefen Vibrationen dazu und ich könnte heulen. Ich denke an Freunde, an liebe Menschen und an die eine, die gerade tapfer kämpft und all meine Bewunderung dafür hat. Die Spanne zwischen Euphorie und Beklemmung kann so eng sein, so weh tun, aber auch ganz viel Mut erzeugen. DANKE für diese wunderschöne Melodie und die darin fein gewobene Lyrik. Wenn SIERRA NOBLE zur Gitarre greift, entstehen feinfühlige Balladen in bester Tradition der großen Namen aus Kanada. Hat sie ihre Fiddle in der Hand, dann sprühen die Funken, ihr Spiel ist entfesselt und man kann ihre ganze Leidenschaft für die ursprüngliche Musizierweise entdecken und bewundern. In Songs wie „I Still Do“ schwingen all ihre Erfahrungen mit Countrymusic, während „Gotta Run Fast“ sich eher nach Folk-Tradition anfühlt. Mehrmals am Abend entdecke ich für mich wahre kleine Perlen, deren Glanz die anderen Songs ein wenig zu überstrahlen scheinen. Die Ballade „No Good Reason“ wird mir nicht mehr aus dem Ohr gehen und ihr Duett mit KRIS ULRICH „(We Are Only) Human After All“ hat das Zeug, ein Klassiker zu werden, denke ich mir. Der Song passt in die Zeit, geht ans Herz und ergreift die Seele. Die Botschaft aus dem Einwanderungsland Kanada heißt, Gefühle zulassen, wo andere nur dumpf herumbrüllen. Solche Songs sind mir die liebsten und die Lady da vorn beherrscht die Kunst, sie zu schreiben und vorzutragen. Einfach Klasse! Im Laufe des Abends hat sie uns sehr unterschiedliche Lieder aus ihrem Album „Possibilities“ (2015) sowie dem aktuellen Silberling „City Of Ghosts“ (2016) vorgestellt. Vom deftigem Rock, über die zarte Ballade bis zum einfühlsamen Folk-Song hat sie uns ihr kleines Universum gezeigt, in dem sich jeder irgendwie seltsam zu fühlen scheint, aber gerade diese verschiedenen „Möglichkeiten“ sind es, so ihre Erklärung für die Songs aus „Possibilities“, die unsere Welt in Vielfalt erstrahlen lassen. Wir müssen nur lernen, uns so zuzulassen, wie wir sind. Eine Botschaft, die willkommen scheint und mir persönlich sehr zusagt. Irgendwann, nach vielen Liedern, ist auch dieses Konzert dem Ende nahe. SIERRA NOBLE greift noch einmal zur Fiddle und lässt es gehörig krachen. Sie fiedelt uns quer durch irische Stücke, einen Hauch von Bluesgrass und als das Tempo beim „Orange Blossom Special“ zu explodieren scheint, geht erst einmal für Sekunden das Licht aus. Erst dann stehen vier glückliche Musiker aus Kanada vor uns auf der Bühne und verbeugen sich. Die sich da sehr charmant bei ihrem Publikum bedankt, ist Kanadischer „Fiddle-Champion“ und in ihrer Heimat preisgekrönt als „Best Singer–Songwriter“ und genau das ist live und auch an den Reaktionen im Saal zu spüren. Wir haben live allerfeinstes Handwerk erlebt und davon möchten wir auch Zugaben bekommen. Zwei weitere Songs sind die Belohnung für die lautstarke Aufforderung, wieder zurück auf die Bühne zu kommen. Noch einmal erklingt die wilde Mixtur aus Jigs und Hillybilly, noch einmal lässt sie ihren Bogen über die Saiten tanzen. Noch einmal steht sie mit Gitarre vor uns und singt ganz allein und dann ist Schluss. Endgültig, denn das Pferdehaar hängt in losen Büscheln von ihrem Fiddle-Bogen herunter. Sie geht und wer sie treffen möchte, braucht ihr nur zum kleinen Tisch im Foyer zu folgen. Sie hat ein freundliches Wort des Dankes für jeden, sie unterzeichnet Karten, Poster und signiert ihre CDs oder beantwortet Fragen. Eine Kanadierin macht das, was ich mir bei der Deutschen Sarah Lesch auch gewünscht hätte. Die Unterschiede beginnen im Detail und bei der Einstellung zu den Fans. Die nette Kanadierin werde ich wieder besuchen, sollte sie kommen. Die unnahbare Deutsche ist bei mir gestrichen!