Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Artrock-Gipfel mit SBB & Stern Combo Meissen in Leipzig 07.09.2016 Auf die Autobahn gießt der Himmel gerade all die Wassermassen, die er sich in den letzten Wochen aufgespart hatte. Eine Gischtwand vor mir und haufenweise Aquaplaning unter mir. Nach hinten sehe ich nicht und im Kopf habe ich Erinnerungen. So dicht wie dieser Vorhang aus Gischt war damals die Musik, 1973 in Dresden. CZESLAW NIEMEN und seine Band spielten diese expressive Mixtur aus Soul, Blues und Jazz, die man später Fusionsmusik nennen würde. Der Sound war fremdartig betörend und kam mit ungeahnter fließender Wucht. Ich vergaß damals das Staunen, aber meine Hirnzellen waren clever genug, das alles zu speichern. Mit diesen Erinnerungen kämpfe ich mich gegen den Starkregen nach Leipzig, um diese Band von einst, die wenig später als SBB Furore machte, noch einmal live zu erleben. Ich bin auf der Fahrt zum deutsch- polnischen Artrock-Gipfel – STERN COMBO MEISSEN und SBB im historischen Stadtbad von Leipzig. Der alte Haudegen Detlef Seidel hat es doch tatsächlich geschafft, die polnische Rock-Legende mit auf seine Bühne zu holen. Das ursprüngliche Anliegen, mit dem slowakischen Collegium Musicum und SBB einen Dreier-Gipfel mit Art-Rock des ehemaligen Ostblocks auf die Bühne zu bringen, scheiterte leider schon im Vorfeld. Manche Träume werden war, andere nicht. In den Minuten vor Konzertbeginn habe ich Gelegenheit, in Ruhe Gespräche zu führen und Freunde zu treffen. Direkt vor der Bühne steht das eher unscheinbar wirkende Equipment von SBB: Keyboards mit Bass, Drums und Gitarre. In der ersten Reihe sitzend, könnte man die Pedale mit den Fußspitzen berühren. Doch nur hier ist es möglich, auch zu sehen, denn wir sitzen mit den Musikern auf Augenhöhe. Die kommen nach den einleitenden Worten von Detlef Seidel und begeben sich zu den Instrumenten. JOSEF SKRZEK nimmt sich seinen Bass, alle drei verständigen sich kurz mit Blicken und wie aus dem Nichts, hämmert JERZY PIOTROWSKI urplötzlich jazzige Rhythmen aus den Becken und Fellen, in die Bass und ANTYMOS APOSTOLIS mit seiner Gitarre einsteigen. Das Stück heißt „Odlot“ (Abfahrt) und knüpft nahtlos an das an, was ich aus meiner Erinnerung von Dresden 1973 zu kennen meine. Ganze zehn Minuten schweben Gitarrenklänge über einem Rhythmusgeflecht und der Bass tanzt melodische Ausflüge dazu. Sparsamer und expressiver Gesang von JOSEF SKRZEK komplettiert das Klangbild. Der Start ist grandios und so wird es bis zum allerletzten Ton auch bleiben. Auch das zweite Stück („New Horizonts“?) ist eine Fusion aus Jazz und Rock. Wechselseitig toben sich Gitarre und Mini- Moog über deftigen wilden Stakkato-Rhythmen solistisch aus, ehe es dann mit einem dritten, sehr harmonischen Stück zunächst wesentlich ruhiger wird. Diese dreiteilige Komposition hält die Spannung ebenfalls über einige Minuten und bietet im Mittelteil die expressiven Soli des Gitarristen sowie des Zauberers an den Tasten. Das Staunen im Saal kann man fast fühlen und mehrfach gibt es spontanen Zwischenapplaus, wofür sich JOSEF sehr emotional bedankt, während ANTYMOS eher still und bescheiden in sich hinein lächelt. Wir sind wohl alle davon begeistert, wie die drei mit unheimlich viel Spielwitz und individueller Professionalität zu überzeugen wissen. Auf welch extrem hohem Niveau diese drei Musiker agieren, demonstrieren sie auch mit „Na Pierwszy Ogien“ (Zuerst war das Feuer). JOSEF SKRZEK steht mit ungehängter Bass-Gitarre zwischen seinen Keyboards und wechselt wieselflink zwischen den Tasten und Saiten, während ihn Drums und Gitarre förmlich antreiben. Dieses Stück endet furios wie ein gewaltiger Paukenschlag. Wahnsinn, fällt mir da nur ein. Nach dem etwas verträumt und verspielten Blues „360 do Tuly“ (360° Blick auf Tula?) folgt darauf mit dem „Rainbow Man“ eine weitere kraftvolle Rocknummer, bei der sich JOSEF auch als charismatischer Sänger zeigen kann. Das Stück steigert sich, basierend auf ANTYMOS’ furiosen Gitarrenspiel, bis zum Crescendo und endet dann wieder völlig unvermittelt, so dass nur der Nachhall einen Moment lang im Saal zu erahnen ist. Ähnliches erleben wir noch einmal bei „Walkin’ Around The Stormy Bay“ und auch diesmal überzeugt JOSEF als beeindruckender Sänger mit ganz eigenem Stil. Beide Songs sind bereits 1979 auf dem englisch eingesungen Album „Welcome“ veröffentlicht worden. Ich erlebe diese Band als kompakt agierendes Trio direkt vor mir, kann hautnah erleben, wie JERZY hinter dem Drum-Set abwechselnd regelrecht wütet und dann wieder gefühlvoll und sehr differenziert Rhythmen erzeugt. ANTYMOS, direkt daneben stehend, spielt meist völlig in sich versunken und sucht nur ab und an Blickkontakt zu den beiden anderen, kann aber bei seinen Soli regelrecht explodieren. JOSEF SKRZEK ist des Bindeglied zwischen beiden und ein Zauberer an seinen beiden Instrumenten. Was wir in diesen eineinhalb Stunden erleben, ist allerhöchste Schublade und in der Spielweise ganz sicher einzig. Vergleiche oder ähnliche Dummheiten fallen mir nicht ein und wenn, dann nur das, was ich von jenem Konzert mit NIEMEN in Erinnerung behalten habe. Das war aber damals auch schon von einem völlig anderen Universum und das hat sich bis heute nicht geändert. SBB sind einzigartig auch im internationalen Maßstab. Eigentlich, denke ich für mich, müsste diese Hütte heute und hier brechend voll sein…. SBB beenden ihr Konzert mit dem hymnischen „Memento z Banalnym Tryptykiem“ (etwa: Gebet für ein schlichtes Triptychon). Zunächst singt JOSEF zu Synthi- und Orgelbegleitung den ersten Teil der Ode, sehr emotional und erhaben auf mich wirkend. Im zweiten Teil treibt sich das Trio instrumental bis zum Schlussakkord. Für einige Momente stehen diese drei Musiker und nehmen ihren Applaus von uns entgegen. Ich sehe in Gesichter, aus denen jede Spannung, die ich noch zu Beginn sah, gewichen ist. Die Freude ist ihnen anzusehen und natürlich lassen sie sich noch zu einer Zugabe bewegen. Die beginnt mit einem Schlagzeugsolo, das diese Bezeichnung auch wirklich verdient hat. Kein übliches Super-Bumm-Bumm, sondern ein gleißendes Feuer ganz unterschiedlicher Rhythmen, ineinander und übereinander geschachtelt, schnell und auf den Punkt! Nicht mehr, aber auch nicht weniger und da hinein steigen die beiden anderen für ein letztes Stück, um sich danach endgültig zu verabschieden. Für einen kleinen Moment sitze ich noch fassungslos vor dem nun verwaisten Instrumentarium, voller Emotionen, die sich mit den Erinnerungen an 1973 abgleichen. Ich bin schlicht gerührt und glücklich, brauche diese Pause, bin aufgekratzt, muss mir meine Beine vertreten und den Kopf lüften. Gespräche lassen ahnen, dass es anderen ebenso geht wie mir. Es fühlt sich an wie im Ameisenhaufen, wie beim großen Kribbeln, das nicht enden will. In dieses Gefühl hinein beginnt MANUEL seine „Promenade“ als a-capella-Version zu singen, eröffnet die STERN COMBO MEISSEN den zweiten Teil des Konzertevents. Das ist ein beeindruckender Moment im ehemaligen Stadtbad. Vor den ausgeleuchteten Bögen einer ehemaligen Schwimmhalle wirkt die Musik des Altmeisters Mussorgski tatsächlich sehr bildhaft. Den Hintergrund in gelb, grün, blau oder rot ausgeleuchtet, erklingen die neuen Versionen der Bilder sehr erhaben, beinahe festlich und „Die Nacht auf dem kahlen Berge“ bekommt den surrealistischen Touch farblich ausgemalt. Es ist immer wieder neu ein Genuss, diese Musik von der STERN COMBO MEISSEN live gespielt, zu erleben. Auch nach so vielen Jahren noch, in denen ich die Band nun schon begleite. Der tosende Applaus des Saales zeigt mir, dass auch andere so empfinden. Es wird Zeit, dass sich einmal wieder die Gelegenheit ergibt, das ganze neu bearbeitete Werk, mit Orchester und Chor, live und in voller Pracht und Schönheit zu hören. Am liebsten im Dom von Halberstadt, denke ich mir im Stillen. Aber auch die eigenen alten Klassiker fügen sich harmonisch in das Art-Rock-Konzept des heutigen Abends ein. Begleitet vom Spiel der Farben und Spots erklingt „Die Sage“, jenes leider immer wieder neu aktuelle Opus gegen Ungerechtigkeit und Tyrannei der Macht. Während die Sythesizer-Schleife langsam leiser wird, mischen sich die Trommelwirbel darüber und dann ist Schluss und jedes Mal ist Gänsehaut angesagt. Die Combo spielt in Top-Form und hat sich für diesen Abend einige ihrer wohl schönsten Klassiker auf die Set-List geschrieben. So auch das vom Leben Thor Heyerdals inspirierte „Der weite Weg“, das von den Mühen und Qualen bis zum Ziel singt. Die beiden Keyboarder werfen sich ihre Einsätze zu, Bass und Schlagzeug symbolisieren im pulsierenden Rhythmus das Unwägbare eines solchen Lebens. Das ist ganz große Klasse! Was das Besondere dieser Band ausmacht, ist auch hier im alten Stadtbad deutlich zu spüren: Es sind die durchdachten längeren Werke, die Themen der Geschichte in heutige Tage übertragen, dem Spiel der Tasten genügend Raum einräumen, und die filigranen Balladen und Lieder wie „Was bleibt“, deren Schönheit nie verblassen wird. Dem Ende entgegen dann wie stets „Der Kampf um den Südpol“, der all diese Komponenten in nahezu idealer Weise in sich vereint. Auch an diesem Abend bildet dieses Mini-Opus den inhaltlichen Schluss- und Höhepunkt. Diesmal stehe ich weit hinter dem Mixer, um den Gesamteindruck zu genießen, ihn quasi einzupacken zum Mitnehmen. Auch wenn die STERN COMBO MEISSEN noch eine Zugabe spielt, der Art-Rock-Gipfel hat sein Final erreicht und sicher ganz viele der angereisten und heimischen Fans sehr glücklich gemacht. In mir wühlen die Emotionen wie selten und ich bin dankbar für diesen Abend. Inzwischen weiß man nie, ob ein solches Erlebnis genau so wiederholbar sein wird. Vielleicht ist dies auch eines der Motive, die Detlef Seidel treiben, gegen den Strom zu schwimmen. Respekt! Aber ich wundere mich auch, wo in Leipzig sich heute all die angeblich harten Rock-Fans versteckt hielten. Beißt Euch in den Arsch, ihr müden Typen vor dem Heimkino, aber jammert auch nicht, wenn irgendwann all das einmal nur noch Geschichte sein wird! Lasst Euch weiter von gestylten gigantischen Spektakeln mit Kran, Showtreppe und bunten Luftballons einlullen, freut euch über Go-Go-Girls und Flitterregen. Nichts gegen Theater- Inszenierungen und Musical, wo sie hingehören, aber Rock’n’Roll geht anders - schon vergessen?!