Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Carlos Santana in Potsdam 09.07.2016 Support: SIX & Cindy Lauper Für mich steht CARLOS SANTANA synonym für eine Band, die, zumindest mit ihren ersten drei Alben, einmaliges in der Geschichte der Rockmusik geschaffen hat. SANTANA steht für quirlig, exotisch heiß, für schwebend, für expressiv rhythmisch und für einen Gitarrensound, der eine ganze Generation von Musikern völlig neu inspiriert hat. Die Musik von CARLOS SANTANA war ein synonym für laszive Erotik und heißes Verführen, für Träume von Weite und Freiheit, nicht nur in der Musik. Und egal, was er bis heute alles zwischendurch ausprobiert hat, genau dafür steht der Musiker für mich heute immer noch. Mir bleibt, der ich nur ein Jahr jünger bin als er, gar nichts anderes übrig, als heute nach Potsdam zu fahren, wo er die zwei Stunden vor Mitternacht mit dem Sound seiner Gitarren und wilder Percussion erfüllen wird. Viel zu lange schon habe ich auf ihn warten müssen. SANTANA stammt aus jener Zeit, als Musik machen gleichbedeutend mit Suchen nach Neuem und mit Experimentierfreude war. Die Grenzen in der Musik ausloten war angesagt und jeder, der wieder ein Stück neues musikalisches Terrain erobert hatte, konnte sich der Zuneigung einer begeisterten Schar von Fans sicher sein. Gleichmaß oder gezieltes Schielen nach Charterfolgen glatte Fehlanzeige. Und CARLOS SANTANA war zudem einer, der die Musikwelt mit Geniestreichen wie „Jingo“, „Black Magic Woman/Gypsy Queen“ und „Oye Como Va“ überraschen konnte. Er hat glitzernde Perlen wie „Batuka“ und „No One To Depend On“ in die Welt entlassen und seinen Fans geschenkt. Heute, runde vierzig Jahre später, ist seine Auffassung von Rockmusik und die damit verbundene Botschaft, immer noch das Maß vieler Dinge. Dass die Massen bei freiem Eintritt strömen würden, konnte man ahnen. Dass selbst zwei erfahrene Außendienstler nur noch einen Platz in der letzten Ecke eines Parkhauses finden würden, sagt noch einiges mehr über den Zustrom aus. Die Straßen zwischen Bahnhof und Lustgarten sind voll gestopft mit Menschen, die zum Festgelände strömen. Ich klinke mich irgendwo ein und lasse mich zum Ziel, der großen Bühne, treiben. In den späten Abendstunden wird man von 50.000 Besuchern sprechen und mittendrin, einen Steinwurf vom Bühnenrand entfernt, stehe ich und hoffe auf ein grandioses Konzert der Woodstock-Legende CARLOS SANTANA. Während ich meinen Platz suche und finde, spielen SIX einige ihrer schönen Lieder dazu: „Geiler is’ es hier!“ Zumindest heute stimmt der Slogan und wahrscheinlich immer öfter. Die Jungs um den Sänger Stefan Krähe und Rampensau Robert Gläser mischen die vorderen Reihen mit ihren „XXL“-Hymnen auf und spülen die Begeisterung nach hinten. Dumm nur, dass deren Auftritt so kurz und die „Sportschau“ auf der großen Bühne eigentlich so überflüssig ist. Die Sportler hätten eine intimere Plattform verdient gehabt. Als wenige Minuten nach 20.00 Uhr CINDY LAUPER mit ihrer Band auf der Bühne erscheint, hat junger Konzertgängernachwuchs die offenen Räume zwischen den vorderen Reihen aufgefüllt. Party-Zeit der 1980er Jahre ist angesagt und vor mir schwingen einige nett gekleidete Damen ihre Hüften und andre Rundungen. Auch eine Geburtstagsrunde feiert ausgelassen und mitten unter ihnen eine Schönheit im Rokoko-Kleid, einer herrlichen Lockenpracht und einem Gesicht darunter, das Tausendschön gut hätte neidisch werden können. Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, frage sie und darf ein Foto von ihr machen. Da hatte für Augenblicke CINDY LAUPER keine Chance auf meine Aufmerksamkeit. Die trällert vorn munter ihr halbes Duzend Hits von Mädchen, die Spaß haben möchten („Girls Just Want To Have Fun“), tänzelt zu „She Bop“ über die Bühne, spielt „Time After Time“ als zauberhaft dezente Variante und haucht dann noch ihr „True Colours“ ins Mikrofon. Sie mischt etwas Swing und Country-Feeling darunter, schüttelt ihre rosarote Rastalockenpracht und erinnert wehmütig an Prince und singt uns zum Abschluss a capella die „Lili Marleen“. Fein gemacht, schön einmal gehört zu haben, aber bei mir reicht es leider nicht wirklich zu Begeisterungsstürmen. Die „CINDY aus Queens“ hat ihre besten Zeiten inzwischen hinter sich gelassen. Ich warte auf den Mann, der mir den „Samba für mich“ spielen soll. Kurz nach 22.00 Uhr haben die Roadies drei verschiedene Podeste auf die Bühne gefahren. Darauf ein Arsenal an Percussionsinstrumenten. Das allein ist schon mal ein überwältigender Anblick. Dann geht das Licht aus, zwischen den Podesten bewegen sich Schatten und endlich steht er im Spot der Lichter vor uns. Der typische Sound seiner Gitarre schwebt über den treibenden Rhythmen der Band. Ich bin im Konzert bei CARLOS SANTANA! Dieses Gefühl ist unbeschreiblich schön. Auf der Bühne pulsieren die typischen Grooves im Gleichklang mit dem Puls in meinen Adern. Lateinamerikanische Rhythmen tragen großartige Melodiebögen in das weite Rund, die ein Virtuose auf den sechs Saiten seiner Vergoldeten zaubert. Da sind schmerzende Fußsohlen Nebensache, weil das Adrenalin durch den ganzen Körper jagt. Plötzlich ist das, was noch vor wenigen Minuten Mrs. Lauper ablieferte, klanglich zur Bedeutungslosigkeit degradiert. Der Sound von SANTANA’s Band hat mehr Volumen, kommt mit viel Druck und die Band präsentiert sich mit einer Riesenportion Spaß und Spielfreude. Der Unterschied zu vorher ist auch deshalb so offensichtlich, weil die Menschenmenge mit einem Schlag wie ein großes Etwas vieler tausender sich wiegenden Körper fungiert. Mittendrin steht ein grauer Alt-Hippie und spürt wieder „Love Makes The World Go Round“, die Botschaft von Woodstock, zeitversetzt auf sich wirken. Ich bin glücklich wie ein kleines Kind, denn vor mir rockt die zweite echte Rock-Legende innerhalb einer Monatsfrist. Ein überwältigendes Gefühl, sich in dieses kleine Klang-Universum fallen lassen und es genießen zu können. Von ganz allein fängt mein geschundenes Knochengestellt an, mit mir zu tanzen. Jeder, so möchte ich behaupten, der die frühen 1970er Jahre musikalisch miterlebt hat, assoziiert mit diesen Nummern ganz bestimmte Gefühle und Eindrücke. Ein erlösender Aufschrei geht schon bei den ersten Takten durch die Menge und wird sich mehrmals im Laufe des Abends wiederholen. Bei „Maria, Maria“ aus „Supernatural“ singt die begeisterte Menge lauthals mit und bei den Klängen von „Europa (Earth’s Cry, Heaven’s Smile)“ ist mir wie Schweben unter Tausenden. Die atmosphärische Lichtshow rundet den Gesamteindruck wirkungsvoll ab. SANTANA hat mit ANDY VARGA und RAY GREENE zwei charismatische Sänger an Bord, die kraftvoll mit dem Sound der Band harmonieren, in die treibenden Rhythmen einsteigen und sogar Akzente mit einer Posaune (Ray Greene) in den Sound einbringen. Hinter dem Arsenal von Rhythmusinstrumenten sticht eine Frau besonders hervor. CINDY BLACKMAN- SANTANA ist der kraftvolle Motor an den Drums, die große Künstlerin, die dieses Geflecht, so kompliziert es auch manchmal scheinen mag, stets locker und leicht erscheinen lässt. Kein Wunder, denn die studierte Jazz-Schlagzeugerin war zehn Jahre mit Lenny Kravitz unterwegs, kann auf eine eigene und erfolgreiche Karriere verweisen und ist noch ganz nebenbei die Frau des Bandleaders. An diesem Abend ist sie zudem ein Hingucker und ein explosives Bündel Energie. Was für eine Erscheinung hinter Carlos! SANTANA und Band machen die zwei Stunden vor Mitternacht zu einem euphorischen Musikfest, das jede Menge Energie freisetzt und Lebensfreude versprüht. Nichts scheint einstudiert, die Musik fließt aus den Musikern heraus und man spürt und sieht auch, welchen Spaß die fröhliche Truppe mit ihrer Musik hat. Sie spielen die großen Klassiker, manchen leicht modifiziert oder instrumental angereichert, sie gönnen sich selbst kleine Ausflüge und Soli und sie verzichten auf jede Art von Anmache. Allein die Sprache der Musik und deren Wirkung, die vielen großartigen Melodien sind es, die pure Begeisterung in den Pulk tragen. Egal ob „Eval Ways“ oder „Chill Out“, das Feuer lodert in jedem, der hier feiert und seiner Begeisterung freien Lauf lässt. Ein großes Dankeschön an Gerald aus HBS, dessen Fotos ich frei benutzen darf. Es sind aber auch die Feinheiten, die einem die blanke Verzückung in die Gesichter treibt. Da leitet der Mann mit Gitarre und Hut sein „Black Magic Woman / Gypsy Queen“ mit einem ausgefeilten Intro ein und bastelt, ganz dezent und feinfühlig, die alte Filmmusik „The Good, The Bad And The Ugly“ ein und strahlt dabei über sein ganzes Gesicht. Und als wäre das nicht schon eine tolle Verzierung, schiebt er noch lässig, und nur für den Bruchteil eines Augenblicks, die Figur von „Painted Black“ hinterher, ehe der Sound wie ein Feuerwerk explodiert. Spät am Abend, beim prallen „Oye Como Va“, das SANTANA auf seinem zweiten Album „Abraxas“ (1970) als Cover-Version eines Latin-Jazz-Klassikers in die Rillen pressen ließ, kann sich keiner mehr halten. Diese Nummer ist auch viele Jahre danach in ihrer Motorik so simple wie genial, das es einen umhaut und anschließend mitreißt. Während dieser zwei Stunden erlebe ich einen Höhepunkt nach dem anderen, kann seine legendären Klassiker in vollen Zügen genießen und mich am Feuerwerk der Percussionisten erfreuen. Noch einmal kann man das Zeitgefühl von damals inhalieren und es wirkt überhaupt nicht peinlich, wenn SANTANA in Person darauf hinweist, dass wir alle gemeinsam „Frieden auf Erden“ ermöglichen können, wenn es alle wirklich wollen. Das ist nicht plakativ, sondern wahr, nur eben leider nicht allen bewusst. Ihm, der ganz bewusst auch auf John Lennon und „Imagine“ verweist, nehme ich diese Botschaft gern ab, weil sie zu seiner Musik gehört. Für mich geht an diesem Abend ein lang gehegter Traum endlich in Erfüllung. Zwei satte Stunden lang zaubert und verzaubert CARLOS SANTANA mit seiner Band die Einwohnerzahl einer ganzen Stadt, so als gäbe es nichts Schöneres und nichts Einfacheres. Nur mit Musik, mit Perfektion und menschlicher Größe. Das macht ihn auch heute, knapp fünfzig Jahre nach Woodstock, noch immer sympathisch und einmalig. Nachdem der allerletzte Akkord noch minutenlang ausgeklungen und der Platz in hell gleißendes Licht getaucht ist, lasse ich mich und meine schmerzenden Glieder mit der Menschentraube langsam nach draußen gleiten. Jetzt zur Mitternachtsstunde hätte ich am liebsten mein altes Gestell gegen ein neues eingetauscht, aber mit den Latino-Rhythmen des Gitarrenhexers SANTANA im Ohr und einer satten Dosis Adrenalin im Blut, gelingt mir der Weg zum Parkhaus ganz gut. Ich falle entspannt und glücklich in den Beifahrersitz neben Klaus. Gerade eben hat ein alter Haudegen spielerisch die Maßstäbe einiger Leute gerade gerückt und ich habe es live miterleben dürfen. Muchas Gracias, Carlos!