Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Rufus Coates & Jess Smith live in der “Reiche” Quedlinburg 15.02.2020 (Düster-schöner Blues, dunkel und bitter-süß wie irisches Bier und „nicht für Galerien“ gemacht.) Manchmal habe ich diese wohlwollend klingenden, von der Herde verehrten, Lieder einfach satt, kann sie nicht mehr hören. Die Zeiten, als Rockmusik einem noch auf die Füße trampeln und das Gehirn in Aufruhr versetzen wollte und konnte, scheinen endgültig dem „Performen“ von Halbsätzen und Drei-Klängen gewichen zu sein. Das sind jene Momente, in denen es mir wie Schuppen aus dem dünnen Haar fällt - damals war ich ja noch jung! Also sollte ich heute dorthin gehen, wo man jung (geblieben) ist und „polierter“ Klang noch keine Entsprechung hat. Noch einmal im Rausch jugendlichen Gebarens mitschwingen und Erfahrungen aus Jahrzehnten auf dem Parkplatz, mitsamt dem modernen Gefährt, einfach abstellen. Per Pedes in Räume zurück, wo das Urbane lauert, wo es schamlos wild wuchert, ehe es, wie Beat, Punk und Gothic, kommerzialisiert zu werden droht. Einen solchen Ort glaube ich gefunden zu haben. Heute lockt es mich wieder zur „Reichentrasse“ von Quedlinburg, einem Schmelztiegel „für Menschen auf der Flucht“, wovor auch immer. Heute fliehe ich vor mir selbst, vor diesem „Ostrock“- Brimborium und überhaupt, vor dem Altwerden müssen. Ich will weg von all dem, diesem genormten Leben. Wenigstens für zwei, drei Stunden „won’t get fooled no more“, von diesem Schmierentheater namens Politik. Die Kneipe ist noch fast leer, ein feiner Platz für mich ist schnell gefunden. Bequem, ein „wie für mich gemacht Sessel“. Bis zum Beginn klebe ich am Leder, trinke Cola und erlebe, wie ein bunt gemischtes Volk langsam den Laden in Beschlag nimmt. Am Tag zuvor hatte ich ein paar Zeilen gelesen, die mich neugierig werden ließen. Ich sah ein Gesicht, das locker einem Zappa Junior zur Ehre gereicht hätte. Plötzlich geht dieser Typ, in schwarz gekleidet, und eine ebenso auffallend dunkle Schönheit, direkt an mir vorüber und steigt auf das Eck-Podest mit einer Sitzecke und einem Wandgemälde dahinter, das einem chinesischen Konsum entliehen scheint. Nichts erinnert mehr an die Welt, vor der ich gerade geflohen bin „Surrealistic Pillow“, schießt es mir durch den Kopf. Wann war das eigentlich? Der Wuschelkopf mit Vollbart zupft spartanisch einen Blues, die schwarze Schönheit wiegt sich im Takt und dann füllt eine Stimme den Raum. Ich fühle mich wie von einer Kobra fixiert, mir stockt der Atem. Was ist das denn?! Wie Sand im Getriebe presst sich der sonore Gesang von „We Seek Shelter“ unter meine Haut, lässt sie erschaudern, ehe es mich wohlig warm durchfließt. So intensiv und düster habe ich Blues noch niemals empfunden und als wäre dieser Eindruck noch nicht vollständig, fügt sich eine beinahe sanfte Frauenstimme zwischen die Ecken und Kanten der Melodie, wie süße Sahne zwischen kleine raue Eiskristalle. Es ist wunderschön, ungeschliffen und haut mich um, einfach so. Nahezu spartanisch wirkt das Spiel der Gitarre bei „Freeman“, einem sich zähflüssig schleppenden Blues. RUFUS COATES erzählt die Geschichte der Entlassung eines Häftlings aus dessen Perspektive. Gemeinsam mit seiner Gesangspartnerin JESS SMITH erleben wir das ganze Spektrum der Gefühle, von zarter Freude bis schmerzhaftem Aufschrei. Mir läuft es kalt und heiß den Rücken hinab, als die beiden, drei Meter vor mir, sich die Seele eines Fremden aus dem Leib singen. RUFUS COATES hatte es zu Beginn „some dark bad blues“ genannt und genau davon wird uns an diesem Abend die ganze Palette offeriert. „Safe For Now“ kommt atmosphärisch dicht sowie düster daher und „Life Goes On“ beschreibt den Blick aus dem Fenster eines Londoner Cafè’s in die nebelgraue City. Beiden gelingt es, mit nur wenigen Nuancen unterschiedliche Stimmungsbilder entstehen zu lassen und die pendeln von lieblich bezaubernd bis düster kreischend durch alle Assoziationen, die man mit Blues ausmalen kann. Es sind die Stimmen zweier Künstler, die gegensätzlicher kaum klingen können, aber im Rhythmus des Blues ineinander verschmelzen und ein zart-ruppiges, verschwenderisches Klanguniversum entstehen lassen, das „nicht für Galerien“ gemacht wurde, so der Titel des Albums „Not For The Gallery“ (2019). Alles wirkt so befreiend, die zwei Stimmen, nur eine Gitarre sowie ein Schluck Cola für ein Wohlgefühl. Mehr braucht es nicht für ein intensives Erleben und in mir erwacht der Teenager zu neuem Leben. Nach einer halben Stunde ist all der unnötige Sing-Sang-Ballast der Außenwelt weggeschmolzen, nicht mehr da. Meine Sinne sind wieder frei für das Schlichte und Schöne und das überfällt mich als Gesang von „Chewing On This Rope“, einem a capella gesungenem Stück, das JESS SMITH mit ihrem irischen Akzent und atemberaubender Intensität präsentiert. Für einen kurzen Moment erliege ich der Illusion, vor mir die junge Janis Joplin mit „Mercedes Benz“ zu erleben, so intensiv dringt dieser Augenblick auf mich ein. Sie singt und stampft den Song regelrecht in die Bühnenbretter hinein. Danach singt RUFUS in „Dragged Down“ (herabgezogen) eine düstere Vision davon, wie die Welt zu Ende gehen könnte und mit „Footpath Of Shame“ (Fußweg der Schande) eine feine Ballade von seinem ersten Album. So eine dunkle kräftige Reibeisenstimme, so unwirklich düsterer Blues und doch so viel melancholische Faszination steckt in all diesen Songs. Es fühlt sich an, als wolle Leonard Cohen mit der Stimme von Tom Waits versuchen, Alexis Korner nachzufühlen und dabei wie Van Morrison zu wirken. Einfach nur irre, ergreifend und es füllt die momentane Leere in mir aus! Zwischen ihren Liedern deutet RUFUS COATES stets kurz die kleinen Episoden an, die ihn inspirierten, einen Song daraus zu machen. So auch jene, als beiden das nötige Geld für die Zugfahrt von Bremen nach Berlin fehlte und sie eine schauderhafte Fahrt mit dem FlixBus erlebten. Daraus entstand „Christ Cross“, eine düstere Blues-Apokalypse aus skurrilen Gesängen und atmosphärischer Lyrik. Die Musik lässt in meinem Kopfkino eigenartig schöne Bilder entstehen, während ich die Gesangsakrobatik von JESS SMITH bestaune. Dies ist nicht einfach ein Kneipenkonzert, sondern eine Performance der ganz besonderen Art: intim, filigran, mitreißend und angenehm betörend, weil musikalisch ungewohnt. Die beiden Künstler aus Irland sind gerade dabei, tief in meine Seele zu dringen, mein Herz zu berühren. Ich könnte im Sessel schmelzen, so düster-real, aber ehrlich direkt sind all diese Blues-Geschichten. Den beiden ist es tatsächlich gelungen, mich emotional aufzufangen, mich zu entführen und irgendwie etwas in mir wieder auszugleichen. Es tut unheimlich gut, sich so intensiv einer Kunst hinzugeben, die man noch nie gekannt, geschweige denn empfunden hatte. Es ist wie das berühmte erste Mal und es macht glücklich. Mich jedenfalls. Nach der Zugabe „Hope“ habe ich Gelegenheit, den beiden Musikern etwas von meinen ersten Eindrücken mitzuteilen, ihnen für dieses Event zu danken. Dabei sehe ich in glücklich strahlende Augen, erhalte Autogramme und darf eine signierte CD „Not For The Gallery“ mit nach Hause nehmen. Ich weiß, dass Musik nur dann ehrlich ist, wenn sie noch mit einfachsten Mitteln zu berühren vermag, ganz aus sich selbst heraus. RUFUS COATES & JESS SMITH sind ein sehr selten gewordenes Beispiel dafür, doch „nicht für die Galerie“, nicht für unsere Medienwelt geeignet und das ist auch gut so! Mir ist wie damals, als wir mit wunden Fingern „Hang On Sloopy“ oder „Blowin’ In The Wind“ nachspielten und sangen. Genau so war mir zwei Stunden lang und das ist mehr, als ich zuvor ahnen konnte. Jetzt kann es Frühling werden, obwohl ich noch keinen Schnee sah. Verrückte Welt!