Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
North Sea Gas & Scottish Weather in Quedlinburg 09.08.2019 Draußen beginnt es, leise zu regnen. Vorsichtshalber nehme ich eine Jacke mit und steige zu Klaus ins Auto. Klaus kutschiert uns über Seiten- und Nebenstraßen aus Halberstadt heraus. Wieder eine andere Ecke kennengelernt. Die Hauptstraße nach Quedlinburg begeistert seit Wochen mit einer Vollsperrung. In der Weltkulturerbe(Fachwerk)Stadt bleiben die Jacken im Auto. Es regnet trotzdem. Im Wipertihof finden wir einen trockenen Fleck unter einem vorstehenden Dach, während sich der Innenhof langsam mit Gästen und Regenschirmen füllt. In diesem einzigartigen Häuser- und Hofensemble kann man sich vielfältig und kulturell verführen lassen. Vom Kunsthandwerk, über Gastronomie, einer Musikschule bis zu Konzerten und Festen reichen die interessanten Möglichkeiten. Heute steht ein Freiluft-Konzert auf dem Programm. Als Liebhaber schottischer Musik zwischen Waterson & Carthy bis Steeleye Span und handgespielten Songs kann ich mir das Konzert von NORTH SEA GAS aus dem schottischen Edinburgh nicht entgehen lassen. Dem Unkundigen sei noch verraten, dass „GAS“ im Namen der Band nichts mit dem aus der Erde gebohrten Naturprodukt zu tun hat, sondern ein Synonym für Spaß ist, so wie beim „Jumpin’ Jack Flash (it’s a gas, gas, gas)“ der Rolling Stones (Klugscheißmodus aus). Den besonderen trockenen Humor der Schotten werden wir im Laufe des Abends auch mehrmals geboten bekommen. Im Herbst des Jahres 1980 trafen sich zufällig zwei Musiker in einer Kneipe von Edinburgh. Spontan spielte man an diesem Abend einige Folk-Songs und hatte Spaß daran. Kein Wunder, dass daraus eine Bandgründung und eine erfolgreiche Karriere wurden. Nun gibt es diese Folk-Band schon beinahe vier Jahrzehnte und noch immer setzen die Musiker auf solides handwerkliches Können auf verschiedenen Instrumenten und perfekte Vokal-Harmonien beim Gesang, sagt die Legende. Als die ersten Akkorde über den Hof schallen und die drei Herren zu singen beginnen, weiß ich, es ist alles wahr, was uns die Legende sagt. Schon nach wenigen Augenblicken ist der leise Regen bei einer der typischen Melodien vergessen. Es schottelt gehörig unterm Fachwerk und das gleich mit dem ersten Song von der neuen CD „Hearth & Homeland“. „Wha Wadnae Fecht For Chairlie“ ist einem alten Militärmarsch angelehnt und eine jener mitreißenden Nummern, die sofort ins Blut und in die Beine gehen. Während danach zwei flotte Reels gespielt werden, sieht sich die Regenfront zum Rückzug genötigt. Umgehend lassen uns die Musikanten wissen, dass sie uns CDs (zum Kaufen) anzubieten hätten, das schottische Wetter des Abends allerdings wäre heute kostenlos zu haben. Die Stimmung im weiten Areal des Innenhofes ist zurückhaltend prächtig. Bei deftigen Weisen wiegen sich die Körper im Rhythmus, einige klatschen die Viertel mit. Ich bin berührt von „Tae de Begging“, einer alten (Dorf?)Ballade, dem einfühlsamen Gesang und der kraftvollen Seemannsweise „Roll The Old Chariot“, die noch die Nähe zu einem Spiritual erahnen lässt. Es ist einfach wundervoll, abseits zu stehen und die Wirkung dieses deftigen dreistimmigen Männergesangs im weiten Rund zu bestaunen. Sie lassen nun „World Turned Upside Down“ folgen. Bei dieser Ballade aus dem 17. Jahrhundert ist Gänsehaut vorprogrammiert, denn wie die drei Herren a-capella ihre Vokalharmonien schmettern, ist einfach faszinierend. Die hohen Mauern lassen die Akkorde schwingen und den Gesang nachhallen, als befänden wir uns in einem gigantischen Dom. Eigentlich müssten jetzt einige tanzend über den Rasen springen, die breiten Wege ausfüllen, statt sich an Tische und Bänke zu klammern. Eigentlich. Die drei Musiker, DAVE GILFILLAN, GRANT SIMPSON und RONNIE „Mac“ MacDONALD, sind längst in Höchstform. Sie singen und spielen sich ihre schottische Seele aus dem Leib, dass es eine Freude ist. Ich fühle mich sauwohl und genieße es, von unterschiedlichen Positionen NORTH SEA GAS beim Spiel zuzusehen. Irgendwie muss ich die Dynamik dieser Musik in Bewegung umsetzen und dabei die eine oder andere Melodie, wie das wundervolle „McPhersons Rant“, leise mitsummen, wenn ich schon nicht im Stil von „Riverdance“ herumzuspringen vermag (aber ganz tief innen eigentlich möchte). Also freue ich mich über „The Jolly Beggarman“ von der neuen CD, das wieder vom bestechenden Satzgesang der Schotten und dem wundervollen Klang einer Mandoline, gespielt von GRANT SIMPSON, dominiert wird. Auch „O’er The Water Tae Charlie“ ist auf der neuen CD zu finden. Beim Zuhören beschließe ich, „Hearth & Homeland“ als Souvenir mit nach Hause zu nehmen und als sie danach „The Mission Hall“ anstimmen, weiß ich, dass der Kauf unumgänglich sein wird. Ich liebe diese Art Folk-Music, deren so typisch deftigen und dennoch sehr intimen Sound, der mir schlicht das Herz aufblühen lässt. Vielleicht liegt es am Klang-Mix von Gitarre, Banjo, Mandoline, Fiddle und Handtrommel, über dem die Melodien sich leichtfüßig oder schwermütig entfalten können und viel frischer als durch „Hohe Tannen“ meine Ohren erreichen. Irgendwie klingt in all diesen Songs so etwas wie eine schottische Seele mit. Keine Ahnung warum, aber für mich fühlt sich diese (Seelen)Musik sehr vertraut an. Als wäre es ein unausgesprochenes Muss, erklingt an diesem Abend auch die bekannte Hymne von den „(Bonny Banks of) Loch Lomond“, „where me and my true love will never meet again“ die schon von vielen großen Stars interpretiert wurde. Es ist inzwischen dunkel ringsum, überall stehen Lichter und verbreiten stimmungsvolles Leuchten zu einer Melodie, die früher zum Flackern vieler Feuerzeuge verleitet hätte. Ich stehe im Dunkeln, meine Gedanken schweifen zurück in den Januar, ins Hospital, und ich bin dankbar, diesen Abend hier mit Freunden erleben zu dürfen. Es scheint uns so vieles ganz selbstverständlich und erst, wenn wir uns plötzlich der Einmaligkeit unseres Lebens bewusst werden, spüren wir, wie schön und wertvoll etwas ist, das wir wohlüberlegt nutzen sollten. Mein Blick wendet sich dem Himmel zu, der statt tausender Sterne wieder Wolken anbietet. Es regnet und das fühlt sich in diesen Minuten verdammt gut und lebendig an! Der Abend neigt sich, schottisch und regnerisch, seinem Ende zu. Noch einmal klingt mit „The Back O’Bennachie“ eine traditionelle Weise, diesmal aus der Gegend um Aberdeen, durch die aufziehende Nacht. Die Fußtrommel von DAVE GILFILLAN stampft den Takt in die Dunkelheit, wo viele Hände den Rhythmus aufnehmen und auch meine alte Hüfte tapfer mitschwingt. Neben der Bühne und im Regen stehend, kann ich RONNIE MacDONALD auf die flinken Finger sehen und sein Spiel bewundern. Jetzt müsste man ein Glass Whisky in der Hand und eine Schönheit im Arm haben, sich drehen und einen Kreis bilden. Doch ich bin nicht der einzige Rentner hier (Achtung: Selbstironie!) und so bleibt mir nur, gedankliches und vorsichtiges Headbanging. Immerhin spielen NORTH SEA GAS mit „Whisky, Whisky“ noch ein zünftiges Lied zum Mitsingen und zum Abschied, ehe der Regen-Schotten-Abend zwischen Fachwerkgemäuern unterhalb von Schloss Quedlinburg stimmungsvoll ausklingt. Mit der signierten CD vom „Herd und der Heimat“ in der Hand und einigen neuen Melodien im Kopf, schaffen wir in wenigen Minuten die Strecke von Quedlinburg nach Halberstadt, wo seit nunmehr fünf Jahren mein Herd steht und ein wenig auch meine neue Heimat ist.