Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
North Sea Gas im Wipertihof Quedlinburg 20.03.2022 Es ist höchste Eisenbahn, endlich wieder Spaß zu haben. Spaß vor allem am gemeinsamen Hören von Musik, live und authentisch. Ich bin inzwischen nämlich völlig „unter-rockt“, „unter-rollt“ sowieso und ein wenig auch (von der eigenen Trägheit) „unter-wandert“. Da hilft nur noch, ähnlich wie Baron von Münchhausen“ es tat, sich selbst am Schlawittchen zu packen und aus dem „Rentner-Home-Office“ heraus zu ziehen. Sobald die ersten lockenden Angebote zu entdecken sind, gibt es kein Halten mehr. So ein Lockruf aus dem fernen schottischen Edinburgh war in Quedlinburg zu vernehmen. Nun kann ich nicht anders, ich muss dahin, ganz egal, was die Tanksäule ausspuckt. Die drei Musikanten von NORTH SEA GAS traf ich schon einmal im Wipertihof. Vor drei Jahren jubelte man ihnen im Innenhof bei typisch schottischem Nieselwetter zu ( HIER ). Die drei Schotten begeisterten mich aus dem Stand. Am Ende jenes Abends stand eine signierte CD als kleines Souvenir in meinem Regal. Jetzt, im Frühjahr und Mitte März, finden sich die Besucher im Saal ein. Natürlich weiß ich, dass kein Jugendkonzert angekündigt ist, komisch kommt es mir dennoch vor, inmitten der älteren Semester zu weilen. Ich will es einfach nicht wahrhaben und im Verdrängen bin ich manchmal auch ganz gut. Vom reservierten Platz aus beobachte ich das Geschehen, genieße mein (alkoholfreies) Getränk und warte auf die drei Schotten. Die betreten das kleine Podest, schnappen sich Bouzouki, Gitarre und Violine und legen schwungvoll mit „Tae de Begging (I will go)“ los. Drei kräftige Schottenstimmen, drei Instrumente und ein leichter Hauch von Pup, denn es steht auch ein Kilkenny auf dem Tisch. Es knistert schottisch unterm Gebälk. Hinter mir vernehme ich rhythmisches Klatschen und am Schluss der Folk-Nummer zarte Jubelrufe. Das fängt ja gut an, denke ich, doch da singen sie schon „The Fields O’Rosslyn“ und schicken danach drei Tunes (Instrumentals) in die Spur. Bei „Cramond Island/The Big Canoe/The Cowshed“ geraten meine Füße unter dem Tisch ins Zucken, denn Grant Simpson steigert sich mit seiner Violine einem Teufelsgeiger gleich. Die ersten Hemmschwellen scheinen überwunden, denn der Saal tobt. Die lange musikalische Durststrecke scheint fast schon vergessen. Mit „Ye Banks And Braes“ präsentieren die Musiker ein altes schottisches Volkslied, dessen Text einst der Nationaldichter Robert Burns verfasste. Dieser kleinen Ode an einen schottischen Fluss senden sie mit „Take Me Out“, ein lustiges Trinklied mit dreistimmigen kräftigen Männergesang, hinterher. Einfach toll zu hören und ich bin (wieder einmal) vom schottischen Humor begeistert. „Vor ein paar Jahren wollten sie uns motivieren, möglichst nur fünf Kilometer mit dem Auto zu fahren. Jetzt fahren wir ohnehin nicht weiter“, meint Grant mit Bezug auf die aktuellen Spritpreise. Wir reisen dennoch (mit King George) „Over The Hills And Far Away“. Die drei Schotten spielen sich mit einem englischen Folk- Song fast in Rage und wieder tobt der ganze Saal. Die Stimmung ist perfekt, doch als sich die drei Sänger an die Mikrofone stellen, wird es still im Raum. Von links nach rechts stehend, faszinieren Ronnie McDonald, Grant Simpson und Dave Gilfillan mit einfühlsam kräftigem Gesang bei der Seemannsweise „Roll The Old Chariot“, die noch die Nähe zum alten Spiritual erahnen lässt. Es ist einfach wundervoll, direkt vor ihnen zu sitzen und die Wirkung dieses deftigen dreistimmigen a-capella Männergesangs zu bestaunen. Für Momente kann man fast die Stille im Raum hören, doch dann brandet ein Beifallssturm los. Einfach Klasse! Von Grant erfahren wir, dass NORTH SEA GAS im Jahr 2020 eigentlich ihr 40-jähriges Jubiläum feiern wollten, die Tour aber um ein Jahr verschieben mussten: „Katastrophe!“. Als man endlich 2021 feiern wollte, musste wieder verschoben werden: „Zweite Katastrophe!“ In diesem Jahr schließlich begehen die Musiker das Jubiläum nun zum dritten Mal. Passend dazu spielen RONNIE, GRANT und DAVE den Titelsong ihrer neuen CD „The Long Road“ (celebrating over 40 years). Dafür wechselt Grant von der Violine zur Bouzouki und endlich würdigen drei furiose Männerstimmen sich selbst sowie über vierzig Jahre „music on the road“. Respekt! Nach einer kurzen Pause hören wir „The Jolly Beggarman“, die Geschichte einer Liebe, die am Feuer in einer Küche beginnt und vor dem Haus tragisch endet. Um das WIE zu erfahren, sollte man diesen Song hören und am besten live. Das trifft in gleicher Weise auf die Story vom General „Montrose“ zu, von der wir erfahren dürfen. Wieder folgen drei frische Tunes, also Jigs & Reels, diesmal als Waltzer verkleidet. Die werden von Jig zu Jig immer schneller gespielt bis sie zum furiosen Schluss in einem wahren Saiten-Orkan münden. Das klingt PARDON - saugeil! Mit „Whisky, Whisky“ folgt das nächste fröhliche Trinklied und für „Mission Hall“ schnappt sich Dave sein Banjo und schiebt noch „It’s not a love song“ hinterher, denn es geht diesmal darum, verlassen zu werden. Die klingende Tragik lässt Grant in sein herzzerreißendes Solo auf der Violine einfließen. Schön ist’s trotzdem oder vielleicht gerade deshalb – who knows. Beim Zuhören beschließe ich, mir ein weiteres CD-Album als Souvenir mit nach Hause zu nehmen und als sie grade „The Mission Hall“ anstimmen, bin ich mir sicher. Ich liebe diese Art Folk-Music, deren so typisch deftigen und dennoch sehr intimen Sound, der mir schlicht das Herz aufblühen lässt. Vielleicht liegt es an der mitreißenden Lebensfreude einerseits und andererseits an der bittersüßen Melancholie, die so anders berührt, als uns Deutschen gegeben ist. Diese Melodien können sich leichtfüßig ebenso entfalten, wie sie schwermütig in den Ohren kleben. Für mein Empfinden offenbaren sie alle so etwas wie ihre schottische, irische oder englische Seele. Keine Ahnung warum, aber für mich fühlt sich diese (Seelen)Musik seit vielen Jahren sehr vertraut an. Die drei Musikanten schaffen es mit wenigen Mitteln unsere Herzen weit zu öffnen. Dafür bin ich in diesen Stunden besonders dankbar. Die zauberhaften Melodien der Schotten leben vom melodiösen Spiel der Bouzouki im zarten Kontrast zur Violine und sie leben von drei beeindruckenden Männerstimmen. Ich könnte manchmal dahin schmelzen, oder, wie in alten Zeiten, am liebsten vor Begeisterung springen - geht gerade leider nicht. RONNIE McDONALD, GRANT SIMPSON und DAVE GILFILLAN, alias North Sea Gas aus Schottland, verbeugen sich am Ende und erhalten jeder ein kleines Geschenk überreicht. Für mich fühlt es sich beinahe wie ein sehnsüchtig erwarteter Befreiungsschlag an, die drei Musikanten glücklich strahlend vor mir zu sehen. Hinter und neben mir wird gejubelt, nach Fortsetzung gerufen und ich lasse in diesen Momenten das alles still genießend über mich ergehen. Natürlich gibt es mit „Little Bit More“ eine deftige Zugabe, quasi als Rausschmeißer. Im Verlauf dieses Abends präsentieren uns North Sea Gas einige Songs von ihrer neuen Jubiläums-dreifach-CD, auf der ältere, wie auch ganz neue Songs zu finden sind. Darunter vom Album „Dark Island“ (2002), als leisen Abschied, das wunderschöne „Caledonia“, das mich mit einem dreistimmigen Chorus voller Sehnsucht und Romantik begeistert Well I don't know if you can see The changes that have come over me In these last few days I've been afraid That I might drift away I've been telling old stories, singing songs That make me think about where I've came from That's the reason why I seem So far away today Let me tell you that I love you And I think about you all the time Caledonia, you're calling me, now I'm going home Den letzten Chorus des Abends erleben wir als a-capella-Gesang. Ich spüre eine Gänsehaut und auch den berühmten Kloß im Hals. Irgendwie gehen mir diese Momente verdammt nahe, zumal man nicht alle Gedanken einfach so ausknipsen und wegstecken kann. Was wird der Morgen bringen, was dieses Jahr und was die Zukunft? Unsere Lieder, denke ich, werden uns stärken und die Hoffnung, sagt man, stirbt zuletzt. Hoffen wir, dass Liebe, Hoffnung und Zuversicht die stärkeren Komponenten des Lebens sind. Dann haben wir vielleicht alle eine Chance. Von allem durfte ich bei North Sea Gas eine wirklich gewaltige Portion nachtanken, ohne einen Preis beachten zu müssen. Ein schönes, ein gutes Gefühl.