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CZESLAW NIEMEN – „Russische Lieder“ (1973) August 2022 Steppe rings umher Heimkehr von der Weide Monoton klingt das Glöckchen Ich gehe allein hinaus Kleine Tannen und Kiefern Braune Augen Wiegenlied Ruhiges Meer Auf den wilden Steppen in Sabaikal Ruhmreiches Meer, heiliger Baikal Czeslaw Niemen wurde 1939 in Dorf Stare Wasiliszki in Russland, heute Weißrussland, nahe dem Fluss Njemen geboren. Die Begegnung mit russischer Folklore, mit der Musik und Denkweise der einfachen Menschen, ist ihm sinnbildlich in die Wiege gelegt worden. Czeslaw Niemen entwickelte sich in Polen zu einem Pop-Star und wurde später sogar ein Gleichnis für Rockmusik in Verbindung mit Poesie auf allerhöchstem Niveau. Der Künstler schuf nicht nur einmalig schöne und seltsam widerborstige Musik, er blieb auch bis zu seinem viel zu frühen Tod ein Paradiesvogel polnischer Art. Niemen war und ist bis heute Kult. In seiner musikalischen Karriere gab es ständig Überraschungen und immer wieder Brüche, Aufbruch und Suche nach neuen Ufern, nach echter Wahrhaftigkeit. Es kann also überhaupt nicht verwundern, dass die Erinnerungen an die schöne Kindheit im Dorf, an den Fluss und die Weiten in der russischen Landschaft, ihren Widerhall auf einer Platte finden mussten. Zwischen den Aufnahmen für die Alben „Ode To Venus“ (1973) und „Mourner’s Rhapsody“ (1974) drängte es ihn, eine Idee zu verwirklichen, die schon lange in ihm reifte: Lieder seiner Kindheit im russischen Heimatort, nahe dem Fluss Njemen, der ihn zum Künstlernamen Niemen inspirierte, zusätzlich aufzunehmen. Das Ergebnis ist das etwas andere Niemen-Album „Russische Lieder“ (1973), das er quasi im Alleingang einspielte. Die auf das notwendigste reduzierte Instrumentierung und der intensiv-authentische russische Gesang machen den besonderen Reiz dieses Albums bis heute aus, das bekannte russische Volkslieder ohne die sonst übliche Schwermut und Melancholie lebendig klingen lässt. Die Platte, zunächst nur im Westen veröffentlicht, hinterließ beim Käufer und der Musikfachwelt eher Schulterzucken. Zu groß war der Spagat von der gerade in Englisch veröffentlichen "Ode To Venus" zu den schlichten Volksliedern russischen Ursprungs. Wer allerdings das Glück einer DDR-Schülerkarriere mit exzellenten Lehrern hinter sich hat, kann ob seiner erbüffelten Kenntnisse der russischen Sprache eine ganze Menge mit diesen Liedern anfangen. Mir jedenfalls geht es so. Ich kann mich Dank eines engagierten Russischlehrers sehr gut an die besungenen Weiten russischer Steppe ("Stepj Da Stepj Krugom") sowie an die Schönheit des unendlichen Baikal ("Slawnoje More...") erinnern. Es ist auch sehr emotional, diese zeitlose Folklore zusammen mit anderen in einem großen Chor zu singen, das gewaltige Volumen und die innere Kraft der Lieder zu fühlen. Mein nachträglicher Dank gilt deshalb Horst Paulick und Renate Trimolt, zwei Ausnahmepädagogen, die genau das bei mir erreicht haben. Niemen entführt uns mit der Platte in die Gefühlswelt des fernen russischen Landes ("Sabajkal") und versprüht dennoch mit eingefügten Piano-Tupfern einen leichten Hauch von westlichem Jazz. Er lässt den Hörer an den Freuden der Menschen teilhaben ("Das Glöckchen klingt leise"), das er nahe am Original interpretiert. Niemen erlebt man zudem, sich selbst spartanisch von einer Gitarre begleitend, wie er das "Kolokoltschik" (Glöckchen) besingt und spürt die Sehnsucht, die diese einmalige Stimme ausstrahlt. Man hört ihn von Lebensfreude singen ("Jolotschki, Sosjonotschki") und stellt verwundert fest, dass die Lieder bei Niemen ganz anders klingen. Nichts da von Sentimentalitäten, die sich sonst einstellen, wenn man an russische Volksweisen denkt. In den „Braunen Augen“ lässt Niemen seinen expressiven Gesangstil aufblitzen, doch die „Wilden Steppen in Sabaikal“ dagegen sind sehr sparsam ausgefallen. Am Ende der Vinyl-LP) singt Niemen noch die schöne Ballade vom „Heiligen Baikal“, der dieser Platte den abschließenden Sahnetupfer aufsetzt. Niemen hatte den Blues, den Russischen Blues, und ganz tief drinnen eine ebensolche Seele, "Soul по русски", wenn ihr versteht, was ich meine. Er gibt jeder dieser Folklore-Perlen durch seine einzigartige Stimme einen ganz besonderen Glanz und der gräbt sich noch immer tief ins Herz ein, wenn ich allein für mich diese Scheibe genieße. Mich überkommt eine besondere Freude, diesen Mann live in Dresden erlebt und ein Autogramm bekommen zu haben. Es ist wie eine leise Wehmut, sich zu erinnern. Czeslaw Niemen starb am 17. Januar 2004 im Alter von 65 Jahren still und von der internationalen Rockwelt, der er so unendlich viel Besonderes schenkte, eher unbeachtet und ungewürdigt. In seiner Heimat Polen ist er noch heute eine verehrte Persönlichkeit, ein Held und Idol. Uns, die wir mit seiner Musik aufgewachsen sind, und denen er bis heute Kult ist, wird er in den Herzen und Erinnerungen bleiben als eine kreative Musikerpersönlichkeit, als ein Ausnahmekünstler, dem musikalischer Inhalt und Lyrik mit Anspruch stets vor Kommerz und zweifelhaften Charterfolgen gingen. Wer also fernab von Trends wieder einmal eine LP kaufen möchte, kann sich auf ein echtes musikalisches Abenteuer einlassen. Man besorge sich die "Russischen Lieder", entweder der Erinnerungen wegen oder als eine unglaubliche Entdeckungsreise in Sachen Welt-, Folk- und Universalmusik. In Zeiten wie diesen tut es gut, sich an schlichten und ehrlichen Genüssen zu erfreuen. Czerslaw Niemen, alte Autogrammkarte