Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Jazz bei Halleggers (in Halberstadt) 09.06.2023 (Lunar X Band aus Hannover live im Keller am Domplatz und als „Special Guest“ Johannes Wasikowski aus Halberstadt.) Auf meinem Wochenendplan steht nur „Rentnern“, mich treiben lassen und vielleicht, mit etwas Glück und Inspiration, ein paar Zeilen aufschreiben. Die Mail im Postfach hätte ich beinahe übersehen. „Habt Ihr Lust, am Freitagabend zu einem privaten Jazz-Konzert zu kommen?“, schreibt Caroline, eine vom Stammtisch der Neu-Halberstädter. Sie verschwand vor der Pandemie Richtung Berlin. Erst einmal bin ich erstaunt, sage dann aber aus purer Neugier zu, freitags zum Domplatz zu kommen. Zum Rentnern bleibt eventuell noch genug Zeit. Der Domplatz, zwischen Dom und Liebfrauenkirche, döst im warmen Abendlicht. Vor der Villa an der Peterstreppe stehen schon ein paar Leute. Kurze Begrüßung, nun weiß ich, hier wird nachher gejazzt. Im Keller ist es noch ruhig und dunkel. Von Karin, der Hausherrin, werden wir herzlich begrüßt, fühlen uns unkompliziert aufgenommen. Direkt vor dem Bühnenpodium wählen wir unsere Plätze, eine „Row Zero“ gibt es hier nicht. Dafür im Nebenraum eine kleine Bar und dahinter ein weiterer mit Billardtisch. Das Ganze erinnert mich an „Die Stube“ in Elsterwerda, nur ist das hier zeitgemäßer. Ein familiärer Ort zum Wohlfühlen. Vor einer der Jazz-Nächte hatte mir der Veranstalter angeboten, ein privates Konzert mit den Akteuren schon vorab zu erleben. Die Pandemie machte einen Strich durch das Vorhaben und ich blieb ahnungslos. Deshalb ist es umso schöner, unverhofft hier gelandet zu sein. Hausherrin Karin lässt es sich auch nicht nehmen, den „Special Guest“, Johannes Wasikowski, persönlich anzukündigen. Den sah ich zwei Monate zuvor schon einmal. Da bestritt er gemeinsam mit dem Gaga-Trio den ersten Teil der Jazz- Nacht im Theater Halberstadt ( HIER ). Diesmal sitzt der Solist direkt vor mir. Seine Finger gleiten verspielt über die Tasten, wo sie eine melodiöse Spur hinterlassen, die klingt. So wie der Löwenzahn in der Natur, braucht auch „Dandelion“ nicht viel, um mich in Spannung zu versetzen. Diese sparsame Melodie schafft es, ohne Verzierungen auszukommen, obgleich der Solist es versteht, ihr wiederholend neue Nuancen zu entlocken. Noch deutlicher wird der Effekt beim darauf folgenden Stück „Epilogue“. Wieder entsteht eine Melodienfolge, die er dreht, wendet, moduliert und verändert, um sie letztlich wieder zum Ausgangspunkt zu führen. Diese Improvisationen dehnt er diesmal noch länger, wodurch es noch spannender wird, die so entstehenden Klangbilder zu entdecken. In die Schublade „Jazz“ mag ich diese Musik allerdings nicht stecken. Es ist „nur“ eine sehr besondere, beinahe entrückte Art, Piano zu spielen und das Unnötige außen vor zu lassen. Johannes musiziert meist mit geschlossenen Augen. Er ist ein Magier der leisen, unaufdringlichen Töne. Seine Zuhörer nimmt er mit auf eine träumerische Reise und jeder kann für sich entscheiden, wohin. Das gelingt mir während dieser fünf musikalischen Kleinode ganz von selbst. Dann ist Pause und Zeit für interessante Gespräche. Wieder ist es die Dame des Hauses, die um Aufmerksamkeit bittet. Diesmal für die Lunar X Band aus Hannover. Vier junge Menschen, die sich einen sehr prägnanten Blickfang auf dem Mond als Bandnamen wählten. Doch das weiß ich in diesem Moment noch nicht. Die vier sind mir ein unbeschriebenes Blatt, eine leere Datei oder was auch immer. Erst nach diesem Konzert, nach dem Hören ihrer Musik sowie nach Gesprächen, wird sich dieser Kreis bei mir allmählich schließen und meine Begeisterung danach groß sein. Zunächst umspielen melodische Figuren vom e-Piano meine Ohren. Die Gitarre antwortet, erweitert das Spiel. Dann kommen Bass und Drums hinzu und allmählich verdichtet sich dieser Sound zu einem kompakten Geflecht, aus dem die Tasten hervorstechen, ohne zu dominieren. „The Other Side Of The Coin“ erinnert mich an locker treibenden Fusions- Jazz - oder sagt man Jazz-Rock? Unwichtig! Solche Musik an diesem „geheimen“ Ort zu entdecken, das passt und ich bin glücklich sowie überrascht. Vier junge Männer praktizieren verschachtelte Fusions-Musik mit einer Leichtigkeit, die mich staunen lässt. Mit „Solètude“ werden sie zwar ein wenig ruhiger, dafür scheint die Nummer leicht zu swingen und zu vibrieren. Mich begeistert, was Robert Lüngen seinen sechs dicken Saiten entlockt. Der spielt den Bass streckenweise wie eine Gitarre und hebt das Instrument aus dem Status des Begleitens weit hinaus. Extravagant und großartig zugleich. Doch Robert Lüngen ist nicht einziger Blickfang auf der Bühne. Mich begeistert ebenso Max Dost am Schlagzeug, der ungemein differenziert zu agieren weiß und sein Können bei „Before You Feel Asleep“ aufblitzen lässt. Wieder raunt es im Jazz-Keller und Zwischenapplaus ist hinter mir zu hören. Die Musik von Lunar X scheint zumeist für das Spiel von Jakob Bereznai am e-Piano sowie den Gitarristen Joel Podolski gestrickt zu sein. Die beiden stimmen sich oft durch Blickkontakte ab, sie lassen melodische Fragmente entstehen, die sie entweder unisono oder wechselseitig ausbauen. Beide ergänzen sich im Spiel oder treiben sich in solistische Einlagen. Dann verschmilzt der Mann mit seinen Tasten und Joel wechselt vom filigranen Fingerkünstler zum Derwisch auf den Gitarrensaiten. Schlicht atemberaubend, selbst bei langsam gespielten Passagen, wie wir bei „Yet To Be Seen“ bestaunen und erleben dürfen. Ich könnte mich innerlich rockend bei solchen Improvisationen weit weg träumen. Nur mein Anstand und das reale Alter verhindern lautere Gefühlsausbrüche. Mein absoluter Höhepunkt ist „Seven Hills“, das Jakob Bereznai während eines Studienaufenthaltes in Rom schrieb. Die alte Römerstadt wurde bekanntlich auf sieben Hügeln errichtet und die Komposition kreiert daraus ein deftiges Soundgemälde. Die Band lässt jetzt all ihren Facetten und den individuellen Möglichkeiten der vier Musiker freien Lauf. Die „Seven Hills“ sind in unterschiedliche Episoden geteilt und lassen genug Freiraum für solistische Ausflüge. Ich genieße ein ausschweifendes Gitarrensolo, das grandiose Spiel mit Becken und Fellen von Max Dost, aber auch das kreative Miteinander aller beim Entwerfen kompakter Klangstrukturen, die im Wechselspiel von Piano, Bass und Gitarre entstehen. Geplant oder freie Improvisationen keine Ahnung, aber auch unwichtig. Ich bin weg und alle und nur das zählt in diesen Minuten. Das war’s dann wohl, denke ich und werde Minuten später mit „High Tide“, einem neu veröffentlichten Song, noch einmal überrascht. Bevor eine kraftvolle Flut über uns hereinbricht, kündigt sie sich mittels unheilvoller Geräusche und Möwenschreie an. Was da auf Bass- und Gitarrensaiten gezaubert wird, ist kaum zu glauben und doch erlebe ich das gerade live. Aus diesen filigranen Interaktionen entwickeln sich treibende Grooves sowie kraftvolle Soli, ein Fusions- Gewitter vielerlei Spielarten und doch ein sehr kompakter fließender Sound. Als die vier Musiker ihre Instrumente zur Seite legen, schlägt ihnen eine tosende Begeisterungswelle entgegen. Aus dem Kellerraum wird eine Arena und der unbekannten Act ein umjubelter Headliner. Volltreffer mitten im Lunar X, aber heute leider nicht zu sehen. Natürlich müssen sie eine Zugabe spielen. Noch einmal klingt ein fantastisches Klang-Gebräu namens „Eden“ vom Podium, gekrönt von einem ebenso beeindruckenden Schlagzeug-Solo von Max Dost. Fast hätte ich vergessen, dass es außer dieser und jener noch andere Spielarten in der Musik zu entdecken gibt. Die Dame des Hause bedankt sich und Lunar X kommt um eine weitere Zugabe, „Dämmerung“, nicht herum. Ich sitze auf meinem Stuhl und genieße diese letzten Minuten. Dann bedanken sich die Musiker noch einmal, ehe sie in die Dunkelheit des Gartens entschwinden. Ich überlege, war das nun Jazz und wenn nicht, was war es dann? Da hat jemand mal einer Schublade ein Etikett verpasst, „Jazz“ darauf geschrieben, doch was wir dort später herausholen, braucht dieses Etikett gar nicht. Diese Grenzen bauen wir in unsere Köpfe, während auf den Bühnen einfach gänzlich unterschiedliche Musik gespielt wird. Gleich wie man sie nennt, es gibt davon nur gute oder weniger gut gemachte. Was ich am heutigen Abend hier erfahren habe sowie erleben durfte, war schlichtweg exzellent, es war wirklich grandios und unbedingt empfehlenswert. DANKE, liebe Caroline, ohne Deine Mail wären mir ein saustarkes musikalisches Erlebnis sowie die besonderen Begegnungen entgangen. DANKE den Halleggers sowie dem Musikforum Halberstadt, dessen Gäste wir sein durften. Wir freuen uns auf ein Wiedersehen im September.