Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Lüül – das Biergartenkonzert im Papermoon 21.07.2019 Mein halbes Leben lang habe ich Westradio, vornehmlich RIAS 2 und SFB, gehört und bin parallel mit der Musik der Bands aus der DDR erwachsen geworden. Vielleicht ist die unterschiedliche Auffassung von Lyrik einer der Gründe, dass ich mit vielen Stars der ehemaligen BRD, bis auf wenige Ausnahmen, nicht so viel anfangen kann. Ich bevorzuge noch heute Musik von Can, Tangerine Dream, Triumvirat, Kraftwerk, La Düsseldorf sowie AshRa, wenn es um jene Herkunft geht. Ich war schon immer ein Fan der Lords und Rattles, habe auch die Gloomys geliebt. Die Musik der vielen anderen Größen geht, bis auf wenige Ausnahmen, ich liebe die „Galaxo Gang“, an meinem Geschmack spurlos vorbei. Ist auch nicht weiter schlimm, als diesbezüglicher Außenseiter fühle ich mich ganz wohl. Doch manchmal packt mich die Neugier, die sich aus der Vergangenheit speist. Der Name Lutz Graf-Ulbrich ist so ein Fragment, bei dem frühe Verbindungen zu Ash Ra Tempel frei werden. Zwischen jener Zeit und heute ist viel passiert, bis ich irgendwann das Kürzel LÜÜL auf einer CD der 17 HIPPIES las, mich informierte und ich verstand. Der Mann hat offensichtlich eine wechselvolle und sehr bewegte Karriere hinter sich, hat viel erlebt, gesehen und kann sicherlich Lieder daraus machen, da er noch immer aktiv ist. Heute singt er im Papermoon und ich beschließe, meine Neugier nicht mehr länger hinzuhalten. Dass der erste Song des Nachmittags eine Hommage an Nico sein würde, habe ich mir nicht vorstellen können. Als LÜÜL „Nächte und Träume“, schon vor Jahren in Erinnerung an gemeinsame Tage mit der Pop-Ikone geschrieben, ankündigt und die ersten Gitarrenklänge schwirren, jubelt mein Rockerherz. Ich habe das legendäre Bananen-Album von Velvet Underground & Nico vor Augen und jene Stunden, als ich RIAS hörend vor dem Radio saß, im Ohr. Während LÜÜL mit rauchiger Stimme über den Loops singend von seinen Erinnerungen erzählt, sprudeln in mir alle nur denkbaren Gedankenfetzen wie wild durcheinander. Aber davon, und wie er mich gerade glücklich macht, kann der Mann da vorn nichts ahnen. Er liefert einem Musikliebhaber gerade den ersten Grund, seine aktuelle CD „Fremdenzimmer“, mit genau jenem Song darauf, ins Visier zu nehmen. Vorn, vor einer weißen Mauer, sitzt ein Mann mit Hut und beigefarbener „Rentnerkleidung“, selbst von ihm kokett so formuliert, auf einem Hocker und plaudert einfach drauflos, ehe er seine nächsten Bilder in Melodien kleidet. Etwa, was man „Morgens in der U-Bahn“ erleben kann und wie er, inzwischen in Berlin-Ost lebend, Episoden aus „West-Berlin“, hektisch pulsierend im Großstadtrhythmus, entstehen lässt. Die Monotonie der Aufzählungen hat für mich beinahe etwas Erdrückendes und ich kann fühlen, warum ich nicht gern im Moloch unterwegs bin. Dazu spielt LÜÜL mit spielerischer Leichtigkeit auf der Gitarre, was den Liedern eine angenehm spritzige Atmosphäre verleit. Spätestens hier bin ich hellhörig und genieße diese liedhaften Momentaufnahmen aus dem prallen Leben der „Party People“ und von deren „Partyüberfall“ irgendwo in der Stadt. Was für ein wundervoll ironischer Zeitkommentar! Und dann haut der „Mann in Beige“ mit seiner Gitarre „Hochzeit bei Zickenschulze“ raus. Mir zucken meine Füße und ohne dass ich es gleich bemerke, tänzeln sie („Hey, Hey Whop’m Doo Wop“) mit mir fotografierend durch die Stuhlreihen. Erst grinst der Einlass, ich dann auch und Fredy Sieg, vor einem Jahrhundert der Schöpfer des Originals vom „Zickenschulze“, würde sich ebenfalls daran ergötzen. Bei dieser unverkrampften Leichtigkeit kann man gar nicht anders, als das „Hey, Hey Whop’m Doo Wop“ im Chor mitzusingen. Sommer und gute Laune lassen grüßen. Wenig später überrascht LÜÜL uns mit einem Song von Tom Waits. Nein, nicht „Waltzing Mathilda“, er singt seine sommerlich eigene Version des knarrenden Stimmwunders als „In der Nachbarschaft“. Jetzt hat der Mann mit Hut mich vollends überzeugt. Ich genieße den samtig-rauen Klang seiner Stimme und singe beim „Heya (Hoo Hoo)“ mit. Es ist ein lauschig warmer Sonntagnachmittag, ich sitze im Biergarten bei einem Glas Sprite und ein Musikant (in heller „Rentnerkleidung“) verbreitet zunächst haufenweise Gute-Laune-Gefühle. Diesem singenden Geschichtenerzähler hätte ich ein zahlreicheres Publikum gewünscht! Nicht zuletzt, um manchen bissigen Zeitkommentar „Leichen haben Konjunktur“ der im Lied vom „Leben ist gut“ versteckt ist, unter die Leute zu streuen. Zum Nachdenken und als Anregung, vielleicht sich selbst zu ändern oder zu hinterfragen. Wer zu Hause blieb, verpasst „Hohe Wellen (egal, egal, egal)“ und diese wunderbare Geschichte einer Berlinerin und einer Schwarzfahrt mit dem Taxi („Berg“), die gesungen fast wie ein Kinderlied daher kommt. Verpasst haben jene auch den wundervoll verarbeiteten Wunsch eines Harald Juhnke „Kein Telefon, keine Termine (und leicht einen sitzen)“ und außerdem, wie LÜÜL versucht, ein Lied zu spielen, das er gar nicht auf seinem Zettel hat und das davon berichtet, wie „er Tarzan und sie Jane waren“. Es ist herrlich anzuschauen, wie er versucht, den Text noch einmal zu finden, was nicht klappen will. Wir lachen alle gemeinsam, LÜÜL singt noch einmal, er verbeugt sich und spricht die magischen Worte: „Das war Lüül in Halberstadt.“ Verbeugung, Klatschen – Zugaben? Ganz ehrlich. Keines der Lieder, was „Der Beige“ für uns sang, kannte ich. Einzige Ausnahme ist die Nummer von Tom Waits als englisches Original. Wieder einmal hat mich jemand überraschen können. Das aber nur, weil ich meiner Neugier den Vorrang gab und den Nachmittag im Papermoon verbringe. Dieser LÜÜL kommt mir anders vor und wie zum Beweis singt er „(Ich bin) Verliebt in du“. Auf einmal macht es bei mir Zoom! Und ich weiß, den Song kenne ich auch und jetzt habe ich ein Gesicht dazu. Die Melodie ist zwar nicht auf der aktuellen Scheibe, dafür aber „Gut zu wissen“ und das faszinierende „Schwarz war die See“, das er ganz zum Schluss zur Ukelele singt, um uns mit einem lächelnden Herz aus dem Biergarten zu entlassen, sagt er. Fast bin ich geneigt, Shanty-Gefühle zu empfinden und im Rhythmus zu schunkeln. Was für ein schöner Abschied von einem, den ich für mich gerade entdeckt habe. Am Ende des Nachmittags und frühen Abends ist das „Fremdenzimmer“ signiert, ist meins und ein Poster wurde gemopst. Sieht ganz so aus, als müsste ich im Oktober alle 17 Hippies besuchen.