Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Lüül – nach dem Lockdown (in HBS) 22.05.2022 Er ist wieder gekommen. Vor der Pandemie, im Juli 2019, gab er ein Biergartenkonzert im Papermoon und begeisterte mich. Heute, fast drei Jahre später, bin ich wieder hier, nachmittags zur Kaffeezeit in Halberstadt. Der Mann trägt unter dem Leinen eine erstaunliche Vita mit sich herum, aber eben nicht vor sich her. Das macht den Unterschied zu vielen anderen und ihn so sympathisch. Über diese, seine Vita, schrieb er mit „Bin schon länger unterwegs“ ein Lied und singt selbiges auch gleich zu Beginn. Es ist auf der neuen Scheibe mit „alten Geschichten, aber neuen Songs“ zu finden, so sein trockener Kommentar. Die flockige Melodie erklingt als lockerer Einstieg, der auch mich locker macht. Die Worte dazu schicken mich auf Reisen im Kopfkino, „immer weiter, immer weiter“. Auch mit dem nächsten, den „Solarboot Song“, setzt sich die Reise „immer weiter, immer weiter“ fort: „Vor uns keine Ahnung und irgendwo ist Lee“. In seinen Texten versteckt sich manchmal so ein staubtrockener Humor, der gefunden werden möchte. Ich liebe solche Sachen, weil nur noch wenige sie spielerisch beherrschen. Jetzt sind diese drei Corona-Jahre zwischen beiden Konzerten dahin geschmolzen, jedenfalls für mich. Sie ergänzen sich nach den ersten beiden Songs. Lüül führt uns in Abschnitte seines Musikerlebens und so gelangen wir, nach Auflösung von Agitation Free, nach Frankreich und einer Konzerttour, die keine war. Kennt man diese Vorgeschichte, ist jede Zeile von „Fahr Johnny, fahr“ ein kleiner Leckerbissen. Und ganz nebenbei erwähnt er Nico. „Ich hab’ es jedenfalls überlebt“, grinst er trocken und schildert seine Sicht auf „West-Berlin“, wo hinter dem Checkpoint Charly die Welt endete. Damals jedenfalls und für ihn. Er sitzt auf diesem Hocker, helle Leinenjacke und Strohhut vor heller Wand mit etwas Grün, und lässt eine Episode nach der anderen vorüber ziehen. Alles in ein kleines Lied gepackt, ohne dass es zu eng wird. Den „Zickenschulze (aus Bernau)“ schiebt er hinterher, all die vielen Strophen auf G7 reduziert, und auf ein unscheinbares Zeichen hin, dürfen wir mitmachen: „Denn die Milch die wusste, wo sie … hingehört. “! Lachen und Zwischenapplaus. Der Mann ist mit einer markanten Stimme gesegnet. Geschmeidig, samtig weich, wie geölter Rauch, der nur ganz leicht kratzt. Auch heute schenkt er uns damit „In der Nachbarschaft“, die weiche und deutsche Version des Tom Waits Klassikers. Ich mag Typen wie diesen Waits, die scheinbar gar keine Stimme haben, aber dennoch die schönsten Melodien erfinden und singen. In Berlin, so lässt uns Lüül wissen, gibt es einen Friseurlanden und der heißt, ungewollt doppeldeutig, „Lock-Down“. Irgendwie habe ihn der Laden zu einem Lied inspiriert. „Die Welt hält an“ ist ebenfalls auf seiner neuen CD „Der stille Tanz“ zu finden und als er es singt, entdecke ich mich auch darin, im Lockdown wartend: „Kein Mensch kommt nah, nur die Zeit, sie geht, alles andere steht.“ Genau so habe ich es auch empfunden und hoffentlich niemals wieder! Er singt in „Ich bin die freie Rede“ von dem Whistleblower, „die es in unsere Zimmer bliesen“ und schrieb „Verbrannte Erde“, ohne zu ahnen, dass es sie bald geben würde. Solche leisen Lieder machen nachdenklicher, als man manchmal möchte. An diesem sonnigen Nachmittag hören wir fast die komplette CD „Der stille Tanz“ live. Aber Lüül greift auch wieder tief in die Kiste und holt da einige andere schillernde Liederperlen heraus. Bei „Verliebt in Du“ kann ich inzwischen leise mitsummen und bei „Schwarz war die See“ neige ich zu schunkeln, aber summe dann doch lieber wieder leise mit. Was für ein schöner sonniger Nachmittag. Sogar ein kleines Mini-Bier wird mir, nach ein wenig Frotzelei, serviert. Mir geht’s gut und ich entscheide mich, nach der Zugabe „Morgens in der U-Bahn“ die neue CD käuflich zu erwerben, um später zu Hause, noch einmal auf die Reise mit dem „stillen Tanz“ gehen zu können. Natürlich lasse ich mir das Teil signieren. Ein Wochenende und zwei völlig unterschiedliche Liedersinger im Ohr, die das Verharren im Lockdown mit individuellen Sichtweisen auf ähnliche Weise verarbeitet haben. Das muss auch ich erst einmal im stillen Kämmerlein (schreibend) verarbeiten. Einen nochmaligen Lockdown, mit allen Konsequenzen, will ich jetzt nicht wieder, die beiden aufmunternden Musikanten aber schon. Bis denne also.