Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
LIFT-Klassiker neu interpretiert live in Halle 04.10.2020 Beinahe jeder, der in der DDR seine stürmische Jugend gelebt und zur populären Musik in jenem Land einen Draht hatte, kennt die Geschichte von LIFT. Es ist die Geschichte einer grandiosen Karriere, eine von wunderschönen Rock- Balladen sowie komplexen Werken und es ist eine Geschichte von Tragik nach dem tödlichen Unfall in Polen. Es ist aber auch die des Versuchs, das Erbe in eine neue Zukunft zu tragen sowie mit Musikerkonstellationen zu experimentieren. Inzwischen ist WERTHER LOHSE der Einzige aus jenen ruhmvollen Tagen und das letzte Konzert, das daran direkt anknüpfte, fand am 18. Dezember 2017 im alten Schlachthof von Dresden statt ( HIER ). Damals musizierten neben WERTHER LOHSE noch TILL PATZER und MICHAEL HEUBACH und die „Meeresfahrt“ erklang noch einmal in ihrer vollen Schönheit. Nach dem Tod von Till und der Entscheidung, mit neuen Keyboardern sowie Saxophon den alten Geist neu zu beleben, bin ich manchmal hin und her gerissen. Es ist schön, noch immer die alten Lieder live hören zu können, wie ich bei jenem berauschenden Konzert im kleinen Theater Ballenstedt erleben durfte ( HIER ). Doch irgendwie gelang das Experiment nicht auf Dauer und seitdem verkörpert Lohse die Band quasi in Personalunion. Dennoch fahre ich heute nach Halle, denn die alten Balladen sollen in der Ulrichskirche zum Klang einer Orgel, gespielt von ANDRE`JOLIG und unterstützt von vier ehemaliger Sängern des Dresdner Kreuzchores, neu erstrahlen und außerdem ist eine (Vinyl)-EP „Der Admiral“ erschienen, die mich beim ersten Hören sofort tief berührt hat. Es scheint fast so, als würde der Geschichte dieser Band ein neues Kapitel hinzu gefügt werden können. Also muss der Konzertbesuch bei LIFT wohl sein, denn es ist die Musik, die mich berührt und die ich liebe. Eine halbe Stunde vor Konzertbeginn wächst eine meterlange Schlange vom Einlass über den Platz bis zum Ulrichsbrunnen. Abstände inbegriffen. Doch dann geht es ziemlich schnell und drinnen ist alles bis ins Detail gut organisiert. Mir wird (m)ein Wunschplatz, mit Blick auf die große Orgel in der Halbkuppel der Apsis, zugewiesen. Ich bin erstaunt, denn so wunderschön hatte ich diese Konzerthalle, von einem Konzertbesuch bei POND, nicht in der Erinnerung. Nach dreizehn Jahren bin ich also wieder hier. Wie doch die Jahre zerronnen sind, ein Klacks jedoch gegen die Jahrhunderte, die in diesen Mauern ruhen. Das Licht wird matt. ANDRÈ JOLIG betritt die Bühne. Er verbeugt sich, das Auditorium klatscht und er begibt sich zur Orgel. Stille. Sekunden später wächst mir eine Gänsehaut, denn diese Melodie, die aus den Pfeifen behutsam zu mir dringt, kenne ich nur zu gut. Das musikalische Thema der „Meeresfahrt“ füllt die Konzerthalle. Wie eine unsichtbare Leiter bauen sich die Töne auf. Zunächst noch zaghaft und leise, doch dann mit voller Wucht des ganzen Instruments. Es haut mich um bei diesen faszinierenden Klängen. Da kann ich also immer älter werden, aber mit den wenigen wohlbekannten Tönen verbindet sich eines der schönsten und nachhaltigsten Konzerterlebnisse mit LIFT, das ich jemals auf „eigener“ Bühne erleben durfte ( HIER ). Was für eine grandiose Dramaturgie, das Thema der Rocksuite als Einstieg zum Konzert zu nutzen! Jetzt kommt WERTHER LOHSE ins Rampenlicht. Es gibt einen fließenden Übergang und wir hören, nur in Begleitung der Orgel, „Nach Süden“ in einer wunderschönen Minimalversion. In den Schlussapplaus hinein betreten nun die vier ehemaligen Kruzianer die Bretter. Werther singt „Komm zurück zu mir“ und wird dabei nur vom Klang der Orgel und den Stimmen der vier Herren unterstützt. In diesem Moment weiß ich, dass ich hierher kommen musste. Als die Sänger den Chorus „Komm zurück zu mir“ dann noch a capella intonieren, habe ich weiche Knie zauberhaft schön und als die „Falsche Schöne“ folgt, geht es mir nicht viel anders. Ein Glück, dass ich gerade sitze. Man bekommt ein Gefühl dafür und es schleicht sich eine leise Ahnung ein, was für zeitlose Melodien in jenen wenigen schöpferischen Jahren bei LIFT entstanden sind. Was für ein Privileg, das alles live und in Farbe hautnah miterlebt zu haben! Dass es gelingen würde, noch einmal daran anzuknüpfen, war für mich kaum noch vorstellbar. Bis in diese Tage. WERTHER kündigt mit „Der Admiral“ einen neuen Song an und ANDRÈ begibt sich zum Flügel. Plötzlich ist die Magie von einst wieder spürbar: die rauchige markante Stimme dieses Sängers sowie die perlenden Tonfolgen vom Piano. Wenn jetzt noch eine Melodie intime Wirkung zu entfalten und zu berühren vermag, ist etwas kleines Großes entstanden. Die Ballade vom Sehnen eines Falters, ein Gleichnis unter dem Dach eines Gotteshauses, da können meine Gedanken auf eine Reise gehen. Die werden alsbald von ANDRÈ an der Orgel zu den Klängen von „Impro eins“ geleitet, ebenfalls auf der neuen EP zu finden, die damit zur Hälfte live vorgestellt ist. WERTHER LOHSE bleibt am Mikrofon, die Orgel entfaltet ihren majestätischen Klang und dann traue ich meinem Ohren nicht. Tatsächlich bekommen wir heute mit „Der Frieden“ einen weiteren Kultsong von LIFT auf die Ohren. Das letzte Mal hörte ich die Komposition, wenn ich mich recht erinnere, zu Beginn der 1980er Jahre, aber hier in Halle feiert das Opus so etwas wie eine kleine „Wiederauferstehung“. Da ist ein alter LIFT-Fan gerade sehr glücklich und hat feuchte Augen. Der freut sich außerdem über die dezente a capella-Version vom „Liebeslied“, die von vier ehemaligen Sängerknaben mit scheinbarer Leichtigkeit vorgetragen wird. Noch so ein Moment, der tief unter die Haut geht und einen Kloß im Hals wachsen lässt. Wunder-herrlich-schön! Eigentlich kann jetzt nichts mehr kommen, geht es mir durch den Sinn und lehne mich entspannt zurück, um den Nachklang der Melodie noch ein wenig schwingen zu lassen. Doch schon begibt sich Andrè Jolig an die Manuale und Tasten der Orgel und Werther kündigt den „Vincent van Gogh“ an. Dass ich dieses kleine Meisterwerk doch noch einmal live zu hören bekommen würde, war nicht zu erwarten und doch schichten sich gerade die Klänge und Läufe aus der Orgel übereinander, füllen das Innere des Gotteshauses mit „malerischer“ Wucht. Was für eine Symbiose von Bauwerk, Musik und Zeit. Ich bin begeistert und JA, es musste unbedingt sein, heute hierher zu fahren. Wer schreibt und spielt denn heute noch solche Werke?! Total aus der Zeit gefallen, scheinen sie, und dennoch von zeitlosem Glanz und Maßstäbe setzend. Von jetzt ab schwelge ich nur noch im Genießermodus. „Mein Herz soll ein Wasser sein“ singt Werther nur zur Begleitung am Flügel und in Erinnerung an Stephan Trepte. Die Kruzianer stimmen a capella eine traumhafte „Sommernacht“ an, in deren Schönheit man schlicht „ersaufen“ könnte. Andrè Jolig zitiert das Intro der „Tagesreise“ an der Orgel, lässt sie aber in „Am Abend mancher Tage“ übergehen, worauf die „Abendstunde“ folgt. Überall kann man die Luft knistern hören und die Begeisterung der Zuhörer spüren. Es ist eine Zeremonie der klingenden Harmonie und Erinnerungen, die sich mit den Liedern verbindet. Mittendrin, eigentlich am Rand, sitze ich und bin glücklich, in die Stadt des „chaotischsten Straßenverkehrs“, zumindest ist das mein Empfinden, gefahren zu sein. LIFT-Musik und Ulrichkirche, das passt, wie an der Schlussreaktion des Auditoriums, ob der Abfolge dieser schönen Songs, abzulesen und zu hören ist. Begeisterung pur und laute Rufe nach einer Zugabe sind die Gegenleistung für einen gut durchdachten und gelungenen Abend mit LIFT-Klassikern sowie zwei neuen Kompositionen von ANDRÈ JOLIG. Es gibt eine Zugabe. Werther bittet die vier ehemaligen Kruzianer Alexander Deke, Lucas Reis, Moritz Schlenstedt und Joan Vincent Hoppe, noch einmal nach vorn und überlässt ihnen dann diese Bühne für einen besonderen Moment. „Schöne Nacht, Gestirne wandeln“ ist ein Gedicht von Carl Hermann Busse, das von Heinrich Kaspar Schmid vertont wurde (habe ich mir sagen lassen). Noch ein einziges Mal zaubern die vier Herren mit ihren Stimmen und verzaubern so ihre Zuhörer, die ihnen andächtig lauschen. Ich weiß nicht warum, aber ich habe das Gefühl, in diesen letzten Minuten wird der Abend endgültig rund. Diese Worte und Musik hätten auch einem Album von Lift entstammen oder gar eine weitere Strophe der „Abendstunde“ sein können, schießt es mir durch den Kopf. Es musste also sein, zu diesem Konzert zu fahren, um die einzigartige Musik und diese berührende Lyrik zu genießen: Schöne Nacht, Gestirne wandeln heilig über dir und des Tags bewegtes Handeln stillt zum Traum sich hier. .. … Abendstunde, stille Stunde, dieser Tag ist ausgebrannt … haben, was wir geben konnten, lange schon dem Tag vermacht …