Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Lieder-Semimar hinterm Rand der Welt 29./30.08.2020 Benahe hätte ich geglaubt, dass diese Welt eine Scheibe sei und deren Rand begänne irgendwo hinter der Autobahn. Ich bin unterwegs nach Goßberg. Den Ort fände ich gleich hinter Hainichen, erfuhr ich auf Nachfrage. In weiser Voraussicht, des nahen Randes wegen, hatte man in Hainichen gar nicht erst versucht, Hinweisschilder aufzustellen, an denen man sich hätte orientieren können. Kein Schild nach Goßberg ist zu entdecken, dafür eines nach „in alle Richtungen“. Alle Richtungen enden hinter dem Ortsrand. Selbst an der Tankstelle kann ein Einheimischer nicht sagen, wo Goßberg liegt. Dies sei hier „der Arsch der Welt“, lässt er mich wissen, „deshalb käme auch keiner hierher“. Also verlasse ich mich auf meinen Außendienstler-Instinkt und gelange nach Mobendorf, wo die Moben, entlang einer langen Straße, leben. Wo die endet, finde ich tatsächlich den „Rand der Welt“, wo es steil abwärts geht. Hier ist endlich ein Schild eingerammt: Goßberg. Es geht richtig steil hinunter und dann wieder steil nach oben, zwanzig Prozent immerhin, und dann bin ich in Goßberg. Im Rückspiegel ist noch der Rand der Welt zu sehen, doch da biege ich schon nach links ab, ins Nirgendwo hinter den Busch: Universitas im Bauernhaus. Wo, in aller Welt, bin ich jetzt gelandet? Dies ist der Rand der Welt, urwüchsig, ursprünglich, ruhig und also wunderschön. Niemand hat an das Refugium die Hände eines Architekten gelassen. Welch ein Glück! Dieser Ort atmet himmlische Stille, Freiheit und Geborgenheit gleichermaßen aus. Matthias, der vom Striegistal, empfängt mich und zeigt mir diese wunderbare Welt. Petra vom Striegistal, seine Gemahlin, verteilt derweil ihr Lampenfieber in allen Ecken des Hofes, aber es wird trotzdem nicht weniger. Meine drei Siebensachen deponiere ich in einer der schmucken Gesindekammern mit Wiesenblick auf den „Rand der Welt“. Wieder auf dem Hof, werden mir der freundliche Regent dieser Universums und sein „Gesinde“ vorgestellt. Auch Gäste aus dem Sumpfland von Chosebuz, Rosamunde und ihr Knappe, sind schon einen Tag vorher eingeritten. Im goldenen Buch der Gäste hinterlasse ich meinen Eintrag, schlendere dann gemächlich durch das Anwesen und riskiere sogar einen Blick dahinter, weit über den „Rand der Welt“ hinaus. Hier entdecke ich wirklich Entschleunigung von den Getriebekräften des aufgeblähten Wachstums einer sich selbst hetzenden Warenwelt. Die Natur jedoch macht derweil ihr eigenes Ding und ich bin hier am Rand, um mich für ein paar Stunden darauf einzulassen sowie davon zu tanken. Der Universitas-Hof füllt sich allmählich mit Gästen aus aller Herren Nester. Auch Bekannte kann ich im Gewusel begrüßen und neue Bekanntschaften werde ich schließen. Vertreter vom fahrenden und singenden Folk mit ihrem Instrumentarium betreten das Anwesen und erobern die Bühne. Wie habe ich solche kleinen Begegnungen vermisst und wie schön es sich anfühlt, „völlig losgelöst“ in die reale Gemeinschaft einzutauchen und gemeinsam vom Kesselgoulasch zu löffeln! Meine Welt ist in diesen Minuten so was von in Ordnung, dass ich sogar eine heiß geliebte Rostbratwurst nicht vermisse. Eine schönere Aus-Zeit kann ich mir gerade nicht vorstellen. Alle strahlen fröhliche Gelassenheit aus und der Wettergott hat für diese Stunden hinterm Rand der Welt noch einmal seine Fähigkeiten gebündelt und für uns üppig ausgebreitet. Später wird er uns noch einen herrlichen Sonnenuntergang (über dem Rand) schenken. Herz, was willst du mehr! Die Spannung steigt, als Petra, die vom Striegistal (und Mobe), die Stufen zum Musik-Altar erklimmt und diesen, ihren besonderen Abend eröffnet. Da spüre ich noch einmal, dass ich Teil einer winzigen, aber einzigartigen Gemeinschaft sein darf. Eine Gruppe ganz unterschiedlicher Musikliebhaber, die auf sehr spezielle Weise im Leben vieler Fans und Musiker ihre Spuren hinterlassen haben. Nun sind Hütte und Hof bestens gefüllt und gute Laune zwischen Getränkestand und Küche angesagt. Der Rest dieser Welt kann mich gerade mal … am Rande besuchen. Von nun an haben Musikanten das Singen. Ein faszinierender Abend nimmt hier seinen Lauf, in dessen Verlauf die Choreografien im Minutenabstand immer wieder neu inszeniert werden. Niemand sonst als die Spontaneität führt hier Regie. Deshalb tritt auch ein Mutiger in Gestalt des „Genitiv“ auf die Bühne und sein Weib, die „DatiFee“, ist sichtlich stolz auf das, was „seine Tanten sagen“. Was für ein geiler Einstieg und welch ein Jubeln der versammelten Gemeinschaft. Dabei sein ist eben doch alles. Genau das stellt danach der „Müller de la Universitas von Goßberg“, der „Hüter des heiligen Domizils“ unter Beweis, als er einen urwüchsigen Sachsen-Blues zu scheppernden Gitarrensaiten in diese Runde wirft. Typen wie ihn trifft man eher selten, aber wenn, dann wirken sie prägend und nachhaltig. Jedenfalls auf mich. Beim silbernen Eisen hätte der sicher niemals eine Chance, aber hier, hinter dem Rand der Welt, ist er der „King vom prenzligen Berg“, Goßberg genannt. Jetzt betritt das neu gegründete Trio „Zwei plus Eine“ die Bühnenbretter- zwei Fass Lieder sowie ein verrückter Vogel, eine außergewöhnliche Konstellation nur für diesen Abend, verwöhnen uns nun mit ausgewähltem Liedgut ostdeutscher Prägung. „Hatschi Waldera“ und andere Gesangsstücke gehören für viele meiner Generation zum Lebenslauf wie „Baden mit Badusan“. Ich jedenfalls bade in Gefühlen und Erinnerungen, genieße die Gesten und Stolperer, den Auftritt eines verbeamteten Volkspolizisten (kommt mir sehr bekannt vor) und jede kleine Nuancen, die in den Liedern mitschwingen. Meist sitze ich tatsächlich bequem in meinem Holzsessel und genieße die Klassiker-Interpretationen, die uns Duo LIED- FASS und ANGELA ULLRICH für diesen besonderen Abend schenken. Kein Mikrofon, nichts zum Einstöpseln und niemand, der Regler regeln oder Schieber schieben müsste und hinter dem Haus zaubert die Natur „nur ’nen dunkelroten Sonnenuntergang“ dazu. Es ist einfach nur ein bissel scheen romantisch und entrückt, ohne gleich esoterisch zu sein. Dolle umschreibt die Szenerie am besten. Diese acht Fotos kann man durch Anklicken vergrößern. Dies hier ist kein Konzert, keine „Bervormäns“, die irgendwer für irgendwen von der Set-List abspielt. Dieser Abend ist Kommunikation und deshalb steht KAY HEMPEL mit Partnerin vor der Bühne. Auch er kann uns eine Menge erzählen. Ich lausche ganz intensiv und staune über jenen alten Song, „Fei’re nie mit Extremisten“, der plötzlich so aktuell ist, als wäre er gerade erst für diese Idioten geschrieben. Der Abend ist voll solcher einmaliger Momente, die aufzuzählen dem Wassertragen in die Elbe gleich käme. Inzwischen erleuchten überall kleine Kerzen auf den Tischen die Nacht. In den Ästen leuchten faszinierende Farbenspiele, um diesem Event noch einmal einen sommerlichen Anstrich zu verleihen. Dann ist die Bühne wieder leer und die Musikanten unters Volk getaucht, eine Gabe, die Politiker inzwischen scheuen, wie Silbereisen den Wenzel. Lied-Fass haben mindestens ein Fass Lieder mitgebracht, die es gemeinsam zu singen gilt. Also erklingen alte und neue Folks-Weisen von den „Saufbrüdern, die längst gestorben sind“, über „Bandiera Rossa“ und des alten König’s Lied „Sag’ mir, wo du stehst“ bis hin zu „Mackie Messer“ mit inbrünstigem Gesang und elfengleichem Tanze im Hof. Im Grunde fühle ich mich wie im Rausch meiner Sinne. Jahresringe adè! Ab und an gönne ich mir Gespräche am Tisch. Ich lerne eher zufällig Menschen kennen, die mich zu interessanten Plaudereien verleiten. Die Gelassenheit des Abends, das Miteinander von Menschen unter Beachtung aller Regeln und die alte Erkenntnis, dass es so schön ist, miteinander Zeit zu verbringen, statt sich anzufeinden, genau das macht das eigentliche Vergnügen beim nächtlichern Lied-Seminar in der Universitas zu Goßberg aus - mir geht’s gut. Längst haben die Zeiger der Uhr ihre Bedeutung verloren. Hinter dem Rand der Welt sind sie ohnehin unwichtig. Wer zählt hier schon Stunden oder fragt nach der Rolle der Bedeutung? Wo die fröhlichsten Musikanten auf die ältesten Fans treffen, werden Superlative so unwichtig, wie vergessene Textzeilen. Mit „La-La-La“, „Wully Bully“ oder „Balla Balla“ haben schon andere vor uns die Welt erobert und sie zu verbessern versucht. Wir sind nur deren Nachfahren und genießen es einfach, so zu sein, wie wir sind wissend und still in uns hinein lächelnd. An diesem Abend haben wir es Petra & Matthias sowie deren fleißigen Helfern hinter den Kulissen, in der Küche oder hinterm Tresen zu danken, dass wir uns diesem Vergnügen bedenkenlos hingeben können. Manchmal werden Träume wahr, wenn auch längst nicht alle Wünsche. Die Nacht ist kurz, das Kissen prall und der Flur bis zum Örtchen lang. Alle drei werde ich noch lange in Erinnerung behalten. Das „Abinente“ ist schlicht, aber exzellent. Diesem ganz besonderen Ort, also der Lokäsch’n vom Goßberg, wohnt ein feiner Zauber inne, den man selbst erleben muss. Das spüre ich auch beim Frühstück mit Kaffee, Brötchen sowie wahlweise Kuchen aus dem schönen Mobendorf, wo die Moben wohnen. Den Weg zurück lasse ich mir erklären, verpasse aber trotzdem, und wegen eines fehlenden Schildes, den Abzweig in Richtung Kalkbrüche. Also wieder Hainichen, wieder „in alle Richtungen“, aber diesmal fahre ich stur über all die Richtungen hinaus und lande trotzdem irgendwo auf der Bundesstraße. Von da an hat mich diese Welt wieder. Ich finde meinen Weg, der mich diesmal auf Umwegen über Elsterwerda, einer riesigen Jagdwurst wegen, zurück in den Harz führt. Mein Herz ist betankt, die Seele im Gleichgewicht und ein Wunsch gewinnt langsam Gestalt möge es bald wieder so ein Treffen geben. Gern hinter dem Rand der Welt, wo ein stiller Ort nach prallem Leben lechzt.