Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Jürgen Kerth – der Blueskönig live in der Feuerwache 27.10.2018 Es gibt nur noch wenige heimische Musiker früher Jahre, bei deren Konzertankündigungen ich sofort weiß, dass ich gern dabei sein möchte. Es gibt nur noch wenige dieser Künstler, die sich treu blieben, keinem Trend hinterher hecheln und genau deshalb authentisch sind. Es gibt nur noch wenige solche Typen, die mich auf eine Reise durch mein eigenes Erleben mitnehmen können und mir dennoch von sich erzählen. Der Thüringer JÜRGEN KERTH ist einer der letzten kantigen Musiker, der noch immer wie ein Rohdiamant wirkt, ungeschliffen und dennoch schillernd, wenn er die Saiten schwingen lässt und seine Lieder vorträgt. Sein Spiel auf den Gitarrensaiten ist unverwechselbar und jedes Konzert ein ganz besonders intensives Erlebnis. ROCK-MIX 1978 Gitarrenhunger 2009 Erdga-Aarena Riesa 2010 Halberstadt 2015 Ich hatte ihn 1978 für ein Konzert bei ROCK-MIX auf „eigener“ Bühne ( HIER ), ich sah ihn in Riesa „auf dem Balkon“ der Erdgas-Arena und als der alten Kulturpalast von Dresden im „Ostrock“ schwelgte. Er war es, der mich im Leipziger Anker beim „Gitarrenhunger“ faszinierte und auch im „Alten Teichhaus“ von Ottendorf-Okrilla war ich oft dabei. Ich war begeistert von einem grandiosen Open Air im Kreuzgang der Liebfrauenkirche zu Halberstadt und fuhr einst nach Finsterwalde, um ihn im Brauhaus Radigk zu erleben. Heute spielt er in Magdeburg und ich fahre wieder zur Feuerwache, um den (Alt)Meister des (ost)deutschen Blues mit „der Einen“ spielen zu hören. Minuten später steht er auf der Bühne und singt „Komm’ herein (mach’ die Tür hinter dir zu)“. Da ist es auch schon wieder, dieses unnachahmliche Gefühl, angekommen zu sein. KERTH kann das, einfach so, und ich genieße es. Ich könnte die Augen schließen und das Kopfkino bestaunen, das mir zu Swing und Boogie-Improvisationen minutenlang Bilder zaubern würde. Inzwischen kann ich das auch, ohne die Augen zu schließen. Ich sehe die Finger von JÜRGEN KERTH über die Bünde gleiten, wie sie Töne ziehen, indem sie die Saiten dehnen und im Hintergrund zupft STEFAN KERTH den Boogie-Woogie aus seinem Bass. Ein Familiengespann, das mit geschlossenen Augen und völlig entspannt den Rhythmen des Schlagzeugers ALEXANDER WICHER folgt. Es ist das klassische Power-Trio im Stil von Experience oder Cream, doch nur den eigenen Intentionen folgend. Die Klassiker werden gern spontan als Zitate eingeflochten und man muss schon sehr genau hinhören, um das „Weiße Boot“ der Roten Gitarren in der „Frühlingsmelancholie“ nicht zu verpassen. Aber es segelt unüberhörbar im Swing-Modus vorüber! In diesem Augenblick huscht ein Lächeln über sein konzentriert wirkendes Gesicht. Wenig später bringt er uns den „Blues vom Blues“ und lässt ihn instrumental weit ausufern. Keines seiner eigenen Lieder spielt er wie „vom Blatt“. Seine Stücke klingen heute oft etwas ruppiger, seine Stimme setzt er sparsamer ein, aber seine solistischen Ausflüge machen aus dem Grundthema jedes Mal eine faszinierende und spannende Reise. Dann wieder zieht sich JÜRGEN dezent in den hinteren Bühnenbereich zurück, überlässt die Bretter den beiden anderen für solistische Einlagen. Da kommt einem das große Staunen, wenn beim Solo plötzlich die Trommelstöcke über die Saiten der „heiligen“ Gitarre tanzen und springen. Später steht er wieder vorn an der Rampe, lässt diese Gitarre schreien, jaulen oder wimmern und auf einmal gleitet der „Albatross“ von Fleetwood Mac durch den swingenden Sound des Instruments. Auch das kann und ist der Bluesmeister aus Thüringen. Dass er allerdings auch seinen Sohn live auf der Bühne überraschen kann, habe selbst ich noch nicht erlebt. Der bekommt plötzlich von seinem Vater „die Eine“ in die Hände gedrückt. „Mach mal“, höre ich den Senior sagen und dann hat er „die Eine“, gleich einem Staffelstab, in seinen Händen. Was er vor nicht allzu langer Zeit noch Bass spielend untersetzte, muss er heute selbst aus den Gitarrensaiten des Vaters zupfen. Einem Klassiker von Ray Charles hat er neue deutsche Zeilen verpasst und singt ihn als „Meine Frau“, ein kleines Lied für seine Eine. „Es muss ja schließlich weitergehen“, meint sein Vater dazu und dann folgt mit „Komm und halt mich“ eine eigene Nummer von STEFAN KERTH. Was soll ich sagen? Für mich klingt es in diesem Augenblick wie ein vorsichtiger Blick in die nahe Zukunft. Natürlich ist Stefan nicht Jürgen, aber irgendwie scheint sich da gerade ein Kreis zu schließen. Doch ehe ich weiter darüber philosophieren kann, kracht mit „Round And Round“ noch eine alte Nummer, diesmal von Chuck Berry, von der Rampe. Verdammt, dieser KERTH hat aber auch eine Bandbreite! Später erinnert er an den kürzlich verstorbenen Tony Joe White und hat ein warnendes Wort für das politische Geschehen in Brasilien auf der Zunge. Kein Statement, aber ein Achtungszeichen und das verbindet er mit „Amazonas“, einem seiner wunderschönen Instrumentalstücke. Wieder geht er zur Bühnenkante, improvisiert mit geschlossenen Augen und lässt sich beim Spiel auf die Finger schauen, während andere sich verträumt im Rhythmus dazu wiegen. Als er später über die Köpfe hinweg fragt, ob denn jemand einen speziellen Wunsch hätte, prasselt es Schlagwörter nach vorn: „Helmut“, „Kleine Mutti“, „Martha“ und „Gloriosa“. Letztere ist ihm heute zu lang, aber die anderen großen Hits seiner frühere Jahre spielt er in genau dieser Reihenfolge. Hätte er seine Augen diesmal nicht geschlossen, würde er in glücklich lächelnde Gesichter aus der Generation mindestens über fünfzig sehen können. Die strahlen, als er von „Helmut“ erzählt und von der „Kleinen Mutti“, der die Hand ausrutscht. Als er dann „Martha (du hast doch nur Glück)“ in eine atemberaubende Mini-Hymne ausweitet und darin „Race With The Devil“ (Gun) und „Black Night“ (Deep Purpler) aufblitzen lässt, brennt die Luft in der alten Feuerwache. Mir ist beinahe wie im Rausch und JÜRGEN KERTH übertrifft sich beim Saitenspiel wieder einmal selbst. Da habe ich diesen Musiker nun schon so oft gehört und er schafft es trotzdem immer wieder, sich neu zu erfinden und dem Augenblick folgend, seine Stücke neu klingen zu lassen. Er selbst steht glücklich lächelnd da oben und sagt plötzlich: „Danke, Euch eine gute Nacht.“ - Bitte? Doch dann meint er, dass er noch zwei Songs für uns hätte. Natürlich spielt er „Ich liebe die Eine (die schon so lange bei mir ist)“ und streichelt deren Saiten, „genau genommen sind es sechs“. Inzwischen ist „diese Eine“ auch auf seinem Gurt zu lesen und mit der unternimmt er dann auch einen Ausflug bis zum „Red House“ und zaubert dort ein Hendrix- Menü nach Kerth’scher Art des Hauses. Ich liebe diese Ausflüge zu den Wurzeln, wenn er sie spontan einbaut. Sie erinnern mich dann, wie alles auch bei mir begann, mit Freunden und einer Wandergitarre, die ersten musikalischen Gehversuche zu starten. Als sich der Abend seinem Ende nähert, bekommen wir noch „Geburtstag im Internat“ zu hören und, weil es ihm offensichtlich Freude bereitet, bastelt er diesmal noch „Get Back“ von den Beatles dazwischen. Die Menge ist begeistert, einige singen sogar mit und ich freue mich, den Altmeister aus Thüringen so agil und lebendig erleben zu dürfen. Was für ein schönes Gefühl, bei diesem wundervollen Abend mit JÜRGEN KERTH und seiner Mixtur aus Swing, Boogie, Reggae, Blues sowie Rock’n’Roll dabei zu sein. Danke Dir Jürgen, ich bin froh und glücklich, mit Blick auf das Konzert vom November 1978, wieder einmal bei Dir gewesen zu sein.