Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Keimzeit rockt den Marstall von Wernigerode 12.10.2019 In diese Örtlichkeit (neudeutsch: Lokäschn) will ich, seitdem ich den Harz vor der Nase habe. Seit fünf Jahren also und nun endlich bietet sich die Gelegenheit, denn dort ist KEIMZEIT angesagt. Die sah ich zuletzt bei einem der Stadtfeste in Dresden, also auch schon vor mehr als fünf Sonnenumkreisungen. An mein erstes Konzert habe ich nur noch Erinnerungsschnipsel im Kopf. Zu Beginn der 1980er Jahre hatten wir die junge Band um die Leisegang-Geschwister in unserem Klub „DIE STUBE“. Elsterwerda im Brandenburgischen gehörte zum Einzugsgebiet von KEIMZEIT und so ein Konzert dehnte sich. Ich weiß nur noch, dass dieser Abend wie ein Happening ablief. Erst weit, sehr weit nach Mitternacht und im Morgenlicht legten die Musiker die Instrumente aus den Händen. Einige schliefen gleich bei uns im Klub und das „Frühstück“ fiel wohl auf den späten Vormittag. So oder so ähnlich entstand der Mythos der Band und wer jene Jahre miterlebt hat, kann Geschichten erzählen, die heute kein Schwein mehr glauben will. Komasaufen war kein Privileg der Klaus Renft Combo. Der alte Marstall von Wernigerode befindet sich auf dem Berg, zumindest auf halber Höhe und wenn man läuft, so wie ich, weiß man plötzlich wieder, dass dies hier der Harz ist. Oben gibt es genügend Parkplätze beim nächsten Mal, schwöre ich mir. In der ehemaligen Reithalle überrascht mich kühles Weiß und der coole Style festlicher Events. Nur das Bühnenpodest an der gegenüber liegenden Seite lässt auf etwas anderes schließen. Die Tische im Eingangsbereich vor dem Tresen sind meist besetzt, die andere Hälfte vor der Bühne glänzt mit gähnender Leere. Als es kurz nach 20.00 Uhr dunkel wird im Saal, stehe ich an der Rampe und hinter mir eine Menschentraube, die fieberhaft auf ihre Band zu warten scheint. Sogar aus Erfurt kam ein Paar. Zum dritten Mal in diesem Jahr zu KEIMZEIT, verraten mir beide. Ein wenig komme ich mir fast wie ein Außenseiter in der ersten Reihe vor, während duster grummelnd „Das alte Schloss“ aus „Bilder einer Ausstellung“ den Beginn ankündigt. Im blauen Licht, höchstens drei Meter vor mir, steht der Mann, der KEIMZEIT in Person ist. Er besingt „Das Schloss (aus Papier)“ zu einigen Klaviertönen, wie vorsichtige Tupfer, eine Kindheitserinnerung. Es ist diese markante Stimme und ein Lächeln im Gesicht, die ich sofort wiedererkenne. Man fühlt sich an die Hand genommen, eingeladen zu einem Rundgang in die Liederwelt des NORBERT LEISEGANG. Am Ende werden wir fast alle Zimmer im Schloss gesehen, fast alle Lieder der Scheibe gehört haben. Aus den ersten Minuten bleiben mir der Klang vom „Lieblingsakkord“ und der „Fliegende Teppich“, ein Zwiegespräch zwischen dem Boden und dem darauf liegendem Teppich - LEISEGANG und der Gitarrist MARTIN WEIGEL singender Weise - in meiner Erinnerung haften. In diesen beiden Ohrwürmern findet man viele wundervolle Metapher, die zum Weiterträumen verführen und Melodien, die wieder typisch KEIMZEIT sind. So als hätte es die Ausflüge in andere Gefilde und Erfahrungen mit anderen Musikern, die sicher auch zum Suchen und Finden gehörten, nie gegeben. Gut so. Das Bühnenpodest bietet der Band genügend Platz, ihre Musik auch optisch umzusetzen. Hinten, auf einem zweiten Podest, agieren Gitarre, Flügelhorn und Bass, während im vorderen Bereich, die Tasten links und das Schlagzeug rechts, den Frontmann flankieren, der so genügend Raum hat, das eine oder andere Mal sich tänzelnd über die Bretter zu bewegen. Eine die Dramaturgie ergänzende Licht-Show und ein druckvoller Sound machen den Gesamteindruck perfekt. Manchmal verlasse ich meinen Platz an der Rampe und genieße das Geschehen aus der Mitte, von wo man das „Irrenhaus“ besser sehen und die „Flugzeuge“, die „Nachtvorstellung der Verrückten“, besser als Gesamtbild beobachten kann. So bin ich mittendrin und stets dabei, mal ganz vorn, mal in der Menschenmenge versteckt. Inmitten unbekannter Menschen stehend, genieße ich diese Mischung aus alten, mir gut bekannten Liedern vom „Irrenhaus“, mit dem „Esel ins All“ oder den „Bunten Scherben“ und jenen vom aktuellen Album. Herausragend finde ich „Stillstand“, vom Grübeln, am Ende des Tages mal nichts erreicht zu haben und dadurch den Nachtbus zu verpassend, entbehrt nicht einer gewissen feinen Ironie. Oder die berührende Liebesgeschichte zweier (inzwischen) versteinerter Seeigel, die sich vor Jahrmillionen im Meer fanden und irgendwann an den Strand gespült wurden. Auf solche und andere Ideen muss man erst mal kommen, um sie dann auch noch in ein passendes Klanggewand zu kleiden. Ein jedes anders überraschend, mal laut und mal leise, mal Blues oder auch gern mal Reggae, mal ein filigranes Solo vom Flügelhorn, in Szene gesetzt von SEBASTION PISKORZ, und dann wieder eine kreischende Gitarre. Die Songs vom „Schloss“ höre ich alle zum ersten Mal und dennoch klingen sie nicht auffällig anders als jene, die ich kenne. Ich bin schlichtweg begeistert und lasse mich von den Liedern und den Stimmungen tragen. Es ist fast wie vor vierzig Jahren, nur etwas anders schön. Was mich begeistert, ist die Homogenität dieser Kapelle, die mich, eigenartiger Weise, irgendwie an die Seilschaft erinnert, nur dass KEIMZEIT mit ihrem ursprünglichen charismatischen Frontmann vor dem Auditorium aufspielt. NORBERT LEISEGANG ist Stimme und Gesicht der Band sowie ihr Jongleur durch die Zeiten, die er kritisch ironisch zu beschreiben und in Bilder zu kleiden versteht. Egal, ob mit einem „Esel ins All“ reitend oder nach „Singapur“ mit einem „Schiff aus schäbigem Holz“ segelnd, stets muss er weiter und trifft dabei den Zeitgeist, gewollt oder ungewollt. Selbst solch skurrile Geschichte, wie jene vom „Maulwurf“, die Gitarrist MARTIN WEIGEL zu singen weiß, passen in das Liederbuch aus vier Jahrzehnten. Die Klassiker und die alten Nummern, in diesem Konzert klingen sie alle aus einem Guss. Überhaupt wirkt auf mich der Gitarrist, neben dem Frontmann, als zentrale Figur. Ich liebe sein solistisches Spiel, dass in „Bunte Scherben“ schon mal ausufern darf, im „Kintop“ auch Assoziationen an Saitenzupfer Knopfler aufkommen lässt und im Intro zum legendären „Kling Klang“ unüberhörbar „Honky Tonk Woman“ der Rolling Stones zitiert. In dem Augenblick muss ich ihm meinen erhobenen Daumen zeigen und ernte ein Lächeln dafür. So geht Kommunikation und die im Saal singen die Texte lautstark mit oder tanzen selbstvergessen vor der Rampe, während sie wieder im Solo des Flügelhorns von SEBASTIAN PISKORZ schwelgen. Irgendwann sind die Zeiger der Uhr unbemerkt zwei Stunden weiter. „Kling Klang“ ist gesungen, die „Sommernächte“ sind verabschiedet und der „Kintop“ hat längst geschlossen. Nach grellem Lichtspots ist die Bühne plötzlich wieder leer. Kein ANDREAS „Spatz“ SPERLING, der statt der Tasten, die Gitarre, auf dem Boden kniend, bearbeitet und kein weiterer Musiker. Nur ein halbleeres Weinglas, das hinten im blauen Licht eine Silhouette abbildet. Aus dem Saal gellen Pfiffe und laute Rufe nach Zugaben. Es gibt Nachschlag aus dem großen Keimzeit-Topf und auch ANDREAS „Spatz“ SPERLING spielt wieder Gitarre, diesmal stehend, und singt selbstvergessen etwas Neues, wie er sagt. Dann steht die Kapelle zum Gruppenfoto vor uns, lässt sich feiern und bejubeln. Noch einmal greift NORBERT zum Mikrofon, denn noch ist es zu früh, um aufzuhören, und der Song von Paul und Paula, „Das Wasser weiß selbst, wo es hingehört“, muss auf jeden Fall auch noch sein, so wie der von „Maggie“ auch. Inzwischen singt ein gemischter Chor mit und ein wenig „Später“, also nach zwei und einer halben Stunde Konzert, ist das Ende ziemlich nah. Die letzten Zeilen des vorletzten Liedes sind verklungen: „(… das könnte) ein schöner Tag“ werden. Irgendwer rief nach Natalie. NORBERT zupft, im Spot stehend, leise seine Gitarre und aus den Saiten kullert nebenbei ein französischer Mädchennamen: „Michelle (ma belle)“. So etwas macht nur jemand, der mit diesen Liedern aufgewachsen ist. Doch das Mädchen im Lied heißt „Natalie“ und der Ort des Geschehens ist Moskau, der Rote Platz. Es ist die wohl liebevollste Liebeserklärung an Umstände, in denen man gelebt haben muss, um all die Facetten dieses Liedes wirklich fühlen zu können. Im Kopf tanzen Bilder von „Monsieur 100000 Volt“, von einem Mädchen mit Pelzmütze, vom Roten Platz und einem Tanz namens Kasatschok. Natürlich muss ich innerlich grienen und natürlich spüre ich schöne Erinnerungen und natürlich liebe ich dieses Lied von Gilbert Becaud. Dieser LEISEGANG schickt mich tatsächlich mit einem Lächeln in die Nacht. Ich laufe lächelnd diesen Berg wieder hinab, eine signierte Autogrammkarte in der Hand, und den Nachklang des bewegenden Konzertabends im Ohr. KEIMZEIT ist eben nicht nur „Kling Klang“, sondern ein dickes Liederbuch voll ganz unterschiedlicher Klänge und Geschichten. Manche davon kann man selbst erlebt haben, manche waren nur Träume, aber alle berühren sie im Herzen. Man muss nur hingehen und wenn’s sein muss, den Berg hinauf, den ganzen langen Weg. Und dort, weit oben steht ein altes Schloss … zumindest in Wernigerode.