Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Karussell live in der Kirche St. Jakobi Köthen 10.06.2022 Es sind schon wieder fünf Jahre vergangenen, denn so lange ist es her, dass ich Karussell im Konzert sah. Im Januar 2017 feierten die alten „Ostrock“-Haudegen ihren 40. Geburtstag mit einer Gala in der Musikalischen Komödie Leipzig. Neben der aktuellen Besetzung um Wolf-Rüdiger Raschke und Oschek hatten sich Dirk Michaelis, aber auch Renft- Urgestein Jochen Hohl sowie Bernd „Hula“ Dünnebeil aus den Gründungstagen von Karussell, angekündigt. Für mich ein Grund mehr, bei dieser Leipziger Gala dabei zu sein ( HIER ). Dass Cäsar und auch Claus Winter „von oben“ zuschauen würden, war für mich ganz selbstverständlich. Heute habe ich meinen Muggen-Transporter in Köthen, nahe dem Marktplatz mit der Kirche St. Jakobi, abgestellt. Karussell hat sich wieder einmal gehäutet und neu aufgestellt, hatte ich erfahren. Da diese Band einst zur ersten Garde im DDR-Rockzirkus zählte und heute selbstredend „Ostrock“ verkörpert, wie einige andere alte Herren auch, musste ich also hin. Schließlich standen sie vor langer Zeit schon auf meiner Bühne ( HIER ) . Die Erinnerungen daran sind immer noch gegenwärtig und heute hole ich mir Nachschlag. In Köthen sogar gute Freunde aus Berlin (!) und Oschatz (!) zu treffen, ist eine halbe Stunde vor Türöffnung eine wirklich schöne Überraschung. Die Zeit verplaudert sich schnell und dann bin ich schonn drinnen: 4. Reihe, Mittelgang. Das Foto eines Freundes musste heute mit auf diese Reise. An der Bühnenkante platziert, wird Kundi ( HIER ) wieder einmal eine seiner Lieblingsbands besuchen. Das bin ich ihm schuldig. Ein Akkord hallt durch den gewaltigen Kirchenraum. Wolf Raschke hebt seine Arme begrüßend und die bekannte (Volks)Weise vom „Fortgehen“ rauscht über unsere Köpfe hinweg, während alle die anderen Musiker ins Scheinwerferlicht treten. Aus dem Nachhall des ersten wachsen weitere Akkorde, die sich aneinanderreihen. Mir wächst schon nach Sekunden eine Gänsehaut, denn in diesem Moment donnert es mir „Entweder oder“ entgegen. Mein Gott Oschek, wohin sind all die Jahre verschwunden, wo sind die Weggefährten geblieben?? In Sekundenbruchteilen blättert ein dickes Geschichtsbuch vor meinen Augen tausende Seiten durch und …. und landet prompt in der Neuzeit mit „Rettet unsre Nacht“, einem Song aus dem Album „Loslassen“ (2011). Der schließt sich nahtlos, ebenso wie „Oben sein“, beide gesungen von Joe, an den Klassiker „Entweder oder“ an. Der Sound passt, die Stimmung ist großartig und ein glücklicher Rock-Rentner in der 4. Reihe genießt es, nach zwei Jahren Ausgebremstsein, endlich wieder rockige Klänge zu erleben. Inzwischen sitze ich seitwärts vom Geschehen. Mit irischem Flair und der Ballade von „McDonald“ sehe ich die kleine Enkelin einer Freundin, mit einem Plüschtier im Arm, nach vorn laufen. Das Plüschtier ist ein Schaf und Oschek soll es „scheren“. So oder so ähnlich, habe ich mir sagen lassen, findet bei den Konzerten ein Plüsch-Schaf seinen Weg zu McDonald, alias Oschek oder Joe Raschke. Wenn eine süße kleine Maus, statt der Fanclub, es tut, strahlt diese Zeremonie etwas Bildhaftes aus, das sonst nur im eigenen Kopfkino stattfindet. Inzwischen ist die Melodie von „Hula“ längst zum Volkslied avanciert und gehört zu Karussell, wie der Frank zum Schöbel. Dieser Konzertteil geht mir unter die Haut. Es folgen „Das einzige Leben“, jener Song, der dem Album voll einzigartiger Songperlen von 1980 seinen Titel gab, und danach „Wer die Rose ehrt“, jenes Lied, das wohl für immer mit dem Namen Cäsar und der Klaus Renft Combo verbunden sein wird. Ich sitze wie gebannt, diesmal in der ersten Reihe, und spüre die wohligen Schauerwellen auf meiner Haut, als der „Jungspund“ der Band, Moritz Pachale, am Bühnenrand ein Gitarrensolo zaubert, das der Melodie einen würdigen Ausklang beschert. Ich bin tatsächlich begeistert. Es sind ganz bestimmt mehr als 50 (in Worten: fünfzig!) Jahre vergangen, seitdem ich diesen Song zum ersten Mal live hörte und dessen besonderen Klang, dessen Ausstrahlung in einem Gotteshaus zu erfühlen – verdammt, das hat was! Vielleicht geht es jüngeren Generationen später auch so, wenn sie Lieder wie „Geben und Nehmen“, „Frei sei der Mensch“ oder die Titelsongs der Alben „Loslassen“ (2011) und „Erdenwind“ (2018) live in anderen Zeiten zu hören bekommen. Für mein Gefühl und in dieser Kirche passen beide problemlos zu den Klassikern der Band. Ganz allein, nur zu gezupfter Gitarrenbegleitung gesungen, entfaltet „Frei sei der Mensch“ pures Gänsehautfeeling, zumal in diesen besonderen brandaktuellen Tagen. Die Auswahl der Songs für den Abend lässt kaum Wünsche offen, sie ist dramaturgisch geschickt und emotional ein Volltreffer. Nur mein ganz persönlicher Geschmack sortiert zwei, drei Stücke dezent beiseite, aber hey, hier findet ja schließlich kein Wunschkonzert für einen ergrauten Rock-Rentner statt! Der wird sogleich mit Mein Bruder Blues“, einem „Fischlein unterm Eis“ und „Ehrlich will ich bleiben“ auf’s Beste bedient. Ich freue mich, dass es die „Nachtigall aus Leipzig“ immer noch locker kann und damit voll auf die Zwölf trifft. Die Ü-50-Generation hinter mir jubelt und alle Musikanten strahlen um die Wette. Es gibt nicht mehr so viele Darsteller aus jenen Zeiten, die noch mit originaler Stimme ihre Lieder singen können. Darauf müssen andere Bands schon seit Jahren verzichten. Oschek kann’s noch und das macht einen wie mich glücklich. Ich fühle mich an Tage erinnert, die andere niemals erlebt haben, die nie am Straßenrand standen, wie es in „Autostop“ besungen wird. Man könnte es Wild-Ost-Romantik nennen, zumal die Kleine diesmal tapfer ein Schild mit der Aufschrift „Stendal“, mit ihren kleinen Händen, für alle sichtbar nach oben hält. Karussell spielen einen Hit nach dem anderen. Der junge Gitarrist Moritz Pachale verziert „Autostop“ mit einem knackigen Solo, das die Menge noch einmal zum Jubeln verleitet. Aus dem könnte einmal etwas werden, denke ich, während meine Kamera auf seine flinken Finger zielt. Das Karussell aber wird von zwei alten Haudegen am Laufen gehalten, die, jeder für sich, locker fünfzig Jahre Rock’n’Roll in den Knochen haben, denn vor dem legendären Karussell gab es mit Fusion schon eine Kapelle, in der beide Musikanten rockten. Beide waren bei der Gründung dabei und hatten mit „Als ich fortging“, gesungen von Dirk Michaelis, ihren vielleicht größten Erfolg. Als diese Melodie erklingt, kündigt sich das Ende des Konzertabends an. Noch einmal die Stimme von Oschek, noch einmal der Sound dieser beliebten Band, und dann wird es duster auf der Bühne. Die Songdramaturgie hat ihren Zweck erfüllt, denn die Masse tobt, man pfeift und will noch mehr hören. Jeder spürt, nach zwei Jahren Auszeit ist man gierig nach solchen gemeinsamen musikalischen Freudenfesten. Es sind der „Stern der Liebe“ und die Melodie vom „Nachtkind“, die den Abend ausklingen lassen. Ich lausche, ich erinnere mich und bin ein wenig glücklich, hierher gefahren zu sein. Alle Vorbehalte sind beiseite gefegt, die Band klingt homogen und die Songs wohl dosiert. Ich bin überrascht, denn meine Erwartungen, nach der Pandemie und den erneuten Umbesetzungen, waren andere. Schön, dass die Bedenken unbegründet waren und wir alle ein mitreißendes Konzert mit alten und neueren Liedern zu hören bekamen und schön auch, mit Wolf, Oschek und Bemme drei gute Bekannte aus alten Tagen gesprochen zu haben. Ein wenig traurig stimmen mich meine Erinnerungen an Kundi, der seine Band Karussell sicher auch gern viel länger begleitet hätte. Gruß nach oben, an Kundi, an Cäsar und all die anderen, die zu früh vorausgehen mussten. Ich aber düse wieder Richtung Harz mit der Hoffnung im Hinterkopf, bald wieder das Karussell von Wolf, Oschek und Bemme, Du unverwüstlicherer Haudegen, besteigen zu können.