Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
A U F B R U C H - Jon Lord: „Concert For Group and Orchestra“ 01.07.2018 sowie zunächst die Sinfonie Nr. 3, op. 45 von Mieczysław Weinberg Während meiner vier Jahre an der Penne (EOS Elsterwerda) war es Gang und Gäbe, regelmäßig und gemeinsam mit dem Bus hinüber nach Plessa zu fahren, um im dortigen Kulturhaus Sinfoniekonzerte, gespielt vom Staatlichen Orchester Senftenberg, als Ergänzung zum Musikunterricht, zu erleben. Auf diese Weise kam ich mit Werken von Beethoven ebenso in Berührung, wie mit der Musik des Russen Schostakowitsch und anderer großer Komponisten. Dazugehöriges Minimalwissen über Hintergründe und den Aufbau solcher Kunstwerke inklusive. Gleichzeitig brach die Beatmusik über mich herein und prägte mein Musikverständnis nachhaltig. Dass beide, also sog. „ernste Musik“ und Rockmusik, auch miteinander können, war spätestens seit dem klassischen Orgel- Intro in „A Whiter Shade Of Pale“ von Procol Harum, zumindest gefühlt, klar. Den Grundstein für die Synthese der scheinbar gegensätzlichen Spielweisen legten, für meine persönlichen Begriffe, Keith Emerson mit THE NICE und JON LORD mit seinem „Concert For Group And Orchestra“. Die Uraufführung mit Deep Purple und dem großartigen Royal Philharmonic Orchestra fand 1969 in der Londoner Royal Albert Hall statt. Beide Klangkörper, so überliefert die Geschichte, konnten oder wollten nur schwerlich miteinander, obwohl sie laut Vertrag mussten. Selbst Blackmore soll stinksauer gewesen sein, aber das war Ritchie in anderen Situationen auch ziemlich oft. Damals war ich ganze 18 Lenze frisch und diente bei der „Asche“ in Berlin. Jetzt bin ich 50 Jahre gereift und nach Elbflorenz gefahren, um jenes legendäre Konzert, diesmal gespielt vom Universitätsorchester Dresden, endlich auch live, statt von Platte, genießen zu können. Den neuen, umgebauten Kulturpalast hatte ich bisher nur von außen betrachtet. Als die Pläne seines Umbaus bekannt wurden, stand ich abends sogar mit einigen „Verrückten“ davor, um meinen Protest zu artikulieren. Es ist Teil der Freiheit, seine Meinung zu sagen, auch wenn sie keinen interessiert und nichts bewegt. Man ließ das Haus innen umbauen und jetzt haben wir Gegenwart. Drinnen erhalte ich problemlos meine beantragte Pressekarte und auch die Erlaubnis, fotografieren zu dürfen. Noch vom Vorabendkonzert im Kunsthofgohlis müde, lasse ich mich in den mir zugewiesenen Polsterstuhl fallen und dann staune ich Bauklötzer. Was für ein Schmuckstück von Konzertsaal! Es hat sich gelohnt, auch wenn darin jetzt weniger Zuhörer Platz finden. Sonntagvormittag, draußen findet ein Radsportevent statt, ist der große Saal mit jungen bis alten Neugierigen ausverkauft. Einer von ihnen zu sein, fühlt sich gut an. Unter dem Beifall der Besucher betreten zunächst alle Orchestermusiker die Bühne, das Prozedere des Stimmens folgt und wenig später auch der junge Dirigent FILIP PALUCHOWSKI seinen Musikern. Dann wird es still im Saal und der Stab in der Hand zeigt an, es geht jetzt los. Der in Polen geborene und vor den Nazis in die Sowjetunion geflohene Jude Mieczyslaw Weinberg ist mir, im Gegensatz zu Schostakowitsch, bis zu diesem Tag völlig unbekannt. Der Komponist schrieb, so lese ich nach, zahlreiche Opern, Konzerte und Sinfonien. Die mit der Nummer Nr. 3 steht heute zuerst im Programmheft. Von Schostakowitsch habe ich einige Platten im Regal, darunter die „Leningrader“. Während der vier Sätze der Weinberg-Sinfonie habe ich mehrfach das Gefühl, Ähnlichkeiten zu hören oder zumindest eine Art Verwandtschaft, die in meinem Kopfkino sogar Bilder von Steppe, Weite und Klänge wie russische Lieder entstehen lassen. Ich spüre in der Musik so etwas wie Lebensfreude und vielleicht fällt mir ausgerechnet deswegen Gaidar’s „Timur und sein Trupp“ ein. Über die vier Sätze hinweg wechseln sich aufbrausende Passagen mit teils dezent wirkenden Klangtupfern ab, die immer wieder neue Spannung erzeugen und so zum Hinhören auffordern. Als besonders auffällig empfinde ich den dritten Satz „Adagio“, während der letzte Satz das Publikum bis zu einem grandiosen Finale in Euphorie versetzt. Ein unbekanntes Werk vor das „Concerto“ von Jon Lord zu setzen, wird dem Motto vom AUFBRUCH mehr als gerecht und ich empfinde es schon deshalb als dramaturgisch geschickt, da beiden Werken der Hauch des Besonderen anhaftet. Gut eingestimmt gehe ich in die Pause, treffe im Foyer, welch schöne Überraschung, auf Freunde und fiebere nun dem „Lord-Opus“ entgegen. Der großartige JON LORD, Gründungsmitglied, Keyboarder und Komponist bei Deep Purple, lebt nicht mehr. Er starb am 16. Juli 2012 und es tat mir weh, denn die Band begleitet mich mit ihrer Musik seit meiner Jugend in den späten 1960er Jahren. Erst im Jahre 1993 erlebte ich tatsächlich die legendäre Mark II Besetzung live in Schwerin, mit Ritchie an der Gitarre und JON LORD an den Tasten. Nichts hätte mich daran hindern können, das Konzert zu sehen und den Keyboarder bei seinem furiosen Solo an der Hammond-Orgel zu bestaunen. Knapp zwanzig Jahre später konnte ich die Band noch einmal live erleben, aber den Keyboarder einmal solo mit einem seiner Werke auf der Bühne, war mir leider nicht vergönnt. Nun also, gut fünfzig Jahre nach dessen Erscheinen, das berühmte „Concert For Group And Orchestra“ live zu hören und dies auch noch in Dresden, das hätte ich mir nie zu träumen gewagt und doch sitze ich im Parkett des Kulturpalastes. Vor dem Orchester steht jetzt eine Rockband, eine Hard-Rock-Band, um genau zu sein. Schwere Kost also für alle Beteiligten. Wieder schwingt FILIP PALUCHOWSKI den Stab. Die Klarinetten beginnen nun solistisch das spätere Thema anzudeuten. Dann steigt das ganze Orchester unter wuchtigen Schlägen von Pauken, und kurz darauf von Bläsern, ein, die das Thema übernehmen. Die Orchesterinstrumente sind unter sich, bauen am Thema und spielen die instrumentalen Möglichkeiten aus. Als die Rockband wenig später einsteigt und mit Gitarre und Orgel dem Orchester das Thema streitig macht, beginnt ein beiderseitiges Ringen darum, das sich erst auflöst, als der Sänger schlichtend eingreift. So meine ganz persönliche Sicht- und Deutungsweise. Ian Gillan, der Mann mit der einzigartigen Rock-Stimme, schrieb auch den Text für diesen Part, der in Dresden von Chorusfeld, bürgerlich als Christoph Scheithauer unterwegs, gesungen wird. Der meistert den Part sehr eindrucksvoll und kann offensichtlich auch die anwesenden Purple-Jünger überzeugen: “How can I see when the light is gone out How can I hear when you speak so silently More than enough is never too much Hold out a hand I'm so out of touch … … how shall I know when to start singing my song What shall I do if they all go wrong What shall I do” Es gibt brausenden Zwischenapplaus und die Rockband darf sich kurz auch instrumental, allen voran die Gitarre mit Feedback, austoben. Den abschließenden Part bestreiten Orchester und die Band quasi gemeinsam, der „Streit“ um die Vorherrschaft im Stück ist, Dank der Gesangseinlage, vom Tisch und die Grenzen der Genres scheinen überwunden. Genau so soll auch die Intention von JON LORD beim Komponieren gewesen sein bestehende Grenzen zu überwinden. Einst beinahe so etwas wie Frevel, ist das Werk heute ein Stück der Musikgeschichte, die ich hautnah miterleben durfte. So viel Euphorie, Spontaneität sowie Einfallsreichtum und, nicht zuletzt auch, so viel Vergnügen (und gar sich drehende Celli), das war wohl verdammt einzigartig, denke ich. JOHN LORD jedoch ließ dem „Concerto“ weitere Solo-Werke wie die „Gemini-Suite“ (1971) oder die „Sarabande“ (1976) folgen, die natürlich auch in meinem Regal einen Platz gefunden haben. Als der letzte Akkord verklungen ist, übernehmen der Beifall und die begeisterten Pfiffe im Publikum das Zepter. Zu recht! Auch ich stehe, ich staune und bin tatsächlich gerührt, dies nach 50 Jahren und in Dresden, miterleben zu dürfen. Die Orchestermusiker trampeln tatsächlich Beifall mit ihren Füßen auf das „heilige“ Bühnenparkett und ihr Dirigent bedankt sich bei Bläsern, Percussion und vielen der Musiker, indem er sie bittet, aufzustehen und ihren Beifall zu empfangen. Welch schöne Geste und die Rockband kniet, damit jeder im Saal das alles überblicken kann. Dass anschließend noch „Black Night“ gespielt wird, ändert an der Euphorie des Augenblicks nichts mehr. Ich bin, wie viele andere auch, nur glücklich, bei diesem einmaligen Ereignis im neuen Kulturpalast dabei gewesen zu sein. Dem Mann am Pult steht das Glück ebenfalls ins Gesicht geschrieben. Ihm ist es gelungen, das Orchester und eine Rockband, über Genregrenzen hinweg, auf einen gemeinsamen Pfad zum Erfolg zu führen. Gratulation und Respekt für diese Leistung! Das Konzert wird zwar die Epoche nicht mehr erschüttern, aber es hat hunderte Herzen bewegt. Eines davon ist meins. Während sich der Saal leert, verweile ich noch einen Moment und traue mich dann nach vorn, einfach um noch etwas Atmosphäre zu schnuppern. Der Zufall will es, dass in diesem Augenblick der Dirigent FILIP PALUCHOWSKI noch einmal zurück auf diese Bühne kommt, so dass ich ihn um ein Autogramm bitten und auch ein paar Worte wechseln kann. Beim Hinausgehen habe ich das Gefühl, als wäre es noch einmal vor fünfzig Jahren und ich zwanzig. Dass vor dem Kulturpalast Menschen schon wieder auf ihre Smartphones starren oder Trump einen seiner inhaltsleeren Tweets abgesetzt hat, bedeutet gerade gar nichts. Ich habe soeben das „Concerto“ für Deep Purple und Orchester live, in Farbe sowie voller Leidenschaft gehört, bin mit Adrenalin angereichert und superglücklich. Heute kann mich jeder! Filip Paluchowski (links) und chorusFELD