Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
22. Jazznacht in Halberstadt – Kasar & JazzRausch Big Band 16.04.2022 „Elektronische Pianoimprovisationen“ sowie „Jazz im Rausch“ live im Theater Halberstadt Je nach Lust, Laune und Möglichkeiten besuche ich ab und zu gern ein etwas anderes Konzertereignis, eines, das meinen Erlebnishorizont zu erweitern vermag. Dann lande ich gern bei freien musikalischen Formen, bei mir unbekannten Solisten oder Bands, die ansonsten wenig im Kalender stehen. Wenn so ein besonderes Konzertangebot lockt, kann ich nur selten widerstehen. Die Neugier treibt mich dann quasi vor die Bühne. Diesmal zur 22. Jazznacht ins Theater Halberstadt. Dort war ich vor fünf Jahren schon einmal. Damals habe ich mich vom dänischen Gitarristen Jacob Bro begeistern lassen ( HIER ). Heute erwartet mich im Foyer des Theaters eine entspannte Atmosphäre. Man begrüßt sich, man kennt sich, man ist in Gespräche eingebunden. Für einen Wimpernschlag bleibe ich stehen, dann lasse ich mich langsam von der Menge aufsaugen und finde mich im Saal wieder. Mal schauen, was mich diesmal erwartet. Der Anblick eines Konzertflügels dominiert die Bühne. Ganz in rotes Licht getaucht, mit unscheinbarem elektronischem Gerät versehen. In einem der vorderen weichen Klappsitze versunken, kann ich wenig später gut erkennen, wie ein beinahe unscheinbar wirkender Musiker im besten Alter zum Flügel geht. Als würde ARNOLD KASAR das Instrument zunächst erst begrüßen wollen, verharrt er einen Moment. Seine Finger berühren Tasten, sie schalten und verfremdete warme Elektroniksounds beginnen, den Saal zu erobern. Die Spannung wächst. Da hinein drängen filigrane Pianoläufe, die sich mit digitalen Klängen zu vermischen scheinen oder sie ergänzen. Wenig später dominieren nur noch die Tasten, die eine Melodie andeuten, sie aber unvollendet der Fantasie der Zuhörer überlassen. Dieses kurze Stück heißt „Sake“ und fühlt sich wie ein Willkommen in einer entspannten Klangwelt an. Ich träume mich, von fremder Hand in ein fernes Land geführt, verspüre Lust auf mehr. Das Wechselspiel elektronischer Klänge mit Improvisationen der Tasten setzt KASAR mit „Praterstern“ fort. Die Klangwelten werden intensiver, die Akkorde drängender und die Musik entfaltet sich überall. Von meinem Platz kann ich dem Künstler, der hinter seinem Instrument fast verschwindet, beim Spiel ins Gesicht sehen. Ich spüre förmlich die Verbindung zu den entstehenden Klangmustern, zum Sound der aufgebauten Samples, in die sich fast melancholisch Melodien drängen, sich winden und drehen, schnell oder langsam werden und ihre Tonhöhe im freien Spiel ändern. Locker und flockig fallen diese Töne in warme Moll-Klänge und manchmal meine ich sogar, Techno-Anleihen zu erkennen. Darin kann man als Hörer tief versinken, sich fallen lassen und genießen. Genau das erreicht der Musiker bei mir mit Kompositionen wie „Weeping Willow“ oder „Stuecke“, die, so wie die vorher gespielten auch, alle von seiner letzten CD „Resonanz“ (2019) stammen. KASAR zaubert mit verzerrten Klängen, mischt sie mit Samples, scheut sich nicht vor Techno-Einflüssen, doch gibt immer wieder dem puren Klang des Flügels den Vorrang. Mir scheint, ich entdecke gerade eine neue, andere Klangwelt für mich. Zwischendurch äußert sich der Musiker zu den nächsten Kompositionen und dazu, wie er sie mittels Improvisation entstehen lässt. Warum er dafür ausgerechnet eine TV-Kochsendung mit Alfred Biolek als Vergleich nutzt, muss man persönlich und live auf sich wirken lassen. Als wolle er diesem Vergleich Ausdruck verleihen, lässt er „Million Miles From Silence“ folgen. Die sphärischen Klavieruntermalungen und Elektronik-Klänge könnte auch Brian Eno erzeugt haben oder auch den frühen Tangerine Dream eingefallen sein und doch erlebe ich gerade etwas völlig anderes. So ein Vergleich hinkt schon optisch, obwohl er sich geradezu aufdrängt, denn nichts auf dieser Bühne deutet auf ein Arsenal an Keyboards oder Synthesizer hin. Mir fällt allerdings auf, dass den tiefen Tonfolgen am Flügel auf seltsame Weise eine gewichtigere Rolle zukommt, was der Künstler etwas später auch bestätigt, als er leichthändig über die Tasten tänzelnd den „Moon Square“ beschreitet. Mir gefallen diese kurzweiligen Klangreisen. Sie lassen dem Hörer alle Freiheiten, sie zu genießen. Deshalb merke ich auch nicht, wie schnell dieser erste Konzertteil quasi zerflossen ist. Nun tobt der ganze Saal, um eine Zugabe kommt der Mann also nicht herum. Sie heißt „Schokolade im Kopf“ und erinnert mich an den Film, in dem allerdings Honig einen Kopf verzaubert. Heute kam dieser Zauber vom Künstler und als ich in der Pause mit ihm ein Gespräch führen kann, ich mir einen Flyer signieren lasse, verstehe ich endlich auch den Hinweis auf die schwere linke Hand. Er schreibt links und ich lächle still in mich hinein. Danke Dir für diese wundervoll klingenden Resonanzen sowie den Wortwechsel danach. Zufrieden und neugierig zugleich, nehme ich jetzt wieder im Saal Platz. Hier hat sich die Bühne völlig verändert. Der Flügel ist verschwunden, dafür füllt jetzt ein Podest den Hintergrund aus. Vorn stehen, anstelle der sonst üblichen Mikrofone, dunkle Orchesterschilder mit großen Initialen JR und BB darauf. Die JazzRausch Big Band ist angekündigt und mit den Erwartungen an eine „große Kapelle“ harre ich der Klänge, die gleich zu hören sein werden. In giftgrünes Licht ist die Bühne getaucht, als die insgesamt 15 Musiker (Jawoll, ich habe gezählt!), heraus treten. Kurzes Einzählen des Taktes und dann rauscht es: Saxophone, Trompete, Posaune, Tasten, Percussions und wer weiß was noch. Über diesem scheinbaren Klanggewirr geht eine „Green Sun“ auf, eine glockenhelle Stimme erhebt sich darüber und der Groove stampft wuchtige Beats dazu. Techno trifft auf Bläser-Sektion. Ein musikalisches Kontrastprogramm, schießt es mir durch den Kopf, während mir der Sound direkt in den Bauch jagt, mir in die Beine rutscht und meine Füße zum Wippen verleitet. Verdammt, das passt! Noch fühle ich mich ein wenig „ungeübt“ nach so vielen Monaten Konzertsterilität, doch hilft mir dieser Mann mit der Posaune und dem Mikro in der Hand schnell heraus. Der nimmt sich als Bayer gleich mal selbst auf die Schippe, denn „der Bayer freut sich, wenn er endlich Halberstadt besuchen darf“. Sofort jubelt der ganze Saal und ich merke, wie sehr mir Live-Atmosphäre und Humor gefehlt haben. Danke, Roman „JazzRausch“ Sladek! Der sagt eine Gedichtvertonung - „Der Literat“ - des Lyrikers Hugo Ball an, die Bandmitglied Leonhard Kuhn (Electronics) verzapft habe. Dass Herr Ball beim Schreiben seines Gedichts Soul im Hinterkopf gehabt hätte, wage ich allerdings zu bezweifeln, aber diese „rauschenden Jazzer“ und die faszinierende Stimme der Sängerin schaffen den Spagat locker und etwas später noch andere. Für einen Augenblick ist mir, als würde ich in den Techno-Beats „Another One Bites The Dust“ erkennen. Das wäre dann das extra Sahnehäubchen oben drauf. Inzwischen verdampft die Luft nicht nur auf der Bühne. In den Gängen links und rechts wird getanzt und vorn flackern die Spots in den ballernden Rhythmen. Zwischendurch präsentieren sich Trompete, Gitarre und Saxophon mit solistischen Glanzeinlagen, wir als Publikum mit begeisterten Zwischenrufen und lauten Pfiffen. Die Atmosphäre im Theatersaal brodelt und die „Kernschmelze von Bigband-Sound mit House und Techno-Musik“, so die Fachpresse, droht die Klinker an den Wänden zu schmelzen. Es fühlt sich an, als würden, so kurz vor Ostern, die Hexen den Sabbath trainieren. Geil, ist das Kurzwort für so eine Mixtur. Der Magier mit der Trombone dirigiert sein Publikum mit lockerer Hand, denn „wer berühmt werden will, sollte in Halberstadt gespielte haben“ und außerdem „in Frankfurt (am Main) kann jeder, jedoch erst in Halberstadt ist’s zauberhaft“. Danach sind wir bereit, der Vertonung des kompletten „Faust I“ von Goethe zu lauschen, die sich dann aber doch auf die „Suche nach Jugend“ beschränkt. Wieder ist das große Staunen angesagt. Wer konnte denn ahnen, dass Goethe ein großer Techno-Fan gewesen sei, so „Mr. JazzRausch“ und wie als Beleg dafür mischt die Kapelle Dance- und House-Rhythmen mit Boogie und Swing sowie mittendrin einem heiß röhrenden Solo eines tief tönenden Saxophones zu den Worten des Dichters. Die Luft vibriert, der Sound reißt mich aus dem Sessel vor zur Bühnenkante. Ich muss spüren, brauche Kontakt und stehe nun an der Kante. „So klingt Goethe’s Faust, wenn man’s geil macht“, sagt der Roman, „denn Beethoven war ja selber’n Techno-Fan, hat sehr darunter gelitten, dass es kaum Techno-Big Bands zu seiner Zeit gab. Deswegen musste er leider für Streichquartette und Orchester schreiben. Ganz besonders beim Streichquartett Nr. 14 fällt das auf“. - Wie bitte, denke ich, doch da ist die Bühne schon wieder in blaues Licht getaucht und diese Kapelle rockt in schrägen kräftigen Klängen vom Album „Beethoven’s Breakdown“. Man beginnt ganz slow und smooth, doch Sekunden später pulsieren die Beats wieder, während jetzt überall getanzt wird. Der Saal gleicht dem Hexenkessel zur Walpurgisnacht und ich stehe mittendrin! „Das ist das letzte Konzert, kurz bevor wir berühmt werden“, ruft „Mr. Jazzrausch“ der tobenden Menge zu und die jubelt ungebremst zurück. So oder so ähnlich sollten die legendären Blood, Sweat & Tears oder Chicago klingen, würden beide noch einmal in heutigen Tagen neu starten können. Ich bin von dieser Art Techno ziemlich begeistert und das will was heißen! Die JazzRausch Big Band läutet das Finale des Abends, in blaues Licht getaucht, ein und jetzt hat auch Roman Sladek mit seiner Posaune bei „J’arrive“ seinen grandiosen Solo-Part. Noch nie habe ich dieses Instrument, hier im Gleichklang mit dem kompletten Gebläse und über sphärische Sounds schwebend, derartig intensiv empfunden. Die Töne rammen sich förmlich in den Raum, als wollten sie ihn, einem Luftballon gleich, aufblähen und zum Platzen bringen. Wer das nicht selbst erlebt hat, wird es niemals glauben können, doch ich spüre all die Vibes direkt am Körper, in den heiligen Hallen eines Theaters! Nach „Punkt und Linie zur Fläche“ ist Ende, Fine, alles vorbei, over and out, sagt der Bandleader der JazzRausch Big Band, kündigt jedoch sogleich noch eine Zugabe an und verrät im Nebensatz, wo die After-Show- Party steigen wird – natürlich in Halberstadt bei Nacht. Noch einmal groovt und stampft die Band, hören wir die Stimmen der Sängerin, spüren wir die Beats im Körper und erleben solistische Ausflüge. Erst dann steht diese 15-köpfige Kapelle in einer Reihe am Bühnenrand, verbeugt sich, lässt sich feiern und das völlig zu Recht. Was für ein grandioses Deja Vu nach Monaten der Live-Entbehrung und dann mit so einer Kapelle! Aber ganz ehrlich, das hab’ ich mir, gleich allen anderen im Saal, verdient. Danke Euch, ihr rauschenden Jazzer und Techno-Jünger, die ihr nur für uns aus dem fernen München in das wunderbare Halberstadt und zu mir gekommen seid. Ihr habt einen weißhaarigen RockRentner sehr glücklich gemacht und ihn wieder vor die Bühne gelockt. Danke auch dem Team um Klaus Huch vom Verein Musik-Forum Halberstadt e.V., die, alle Jahre wieder, dieses exzellente Ereignis im Theater möglich machen. Respekt den Sponsoren, in Zeiten wie diesen ihre Kassen für die Kunst und Kultur zu öffnen. Wir sehen uns im April kommenden Jahres wieder wetten dass - Hauptsache es jazzzzzt.