Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
23. Jazz-Nacht Halberstadt 2023 22.04.2023 ( Gaga Trio feat. Johannes Wasikowski sowie The Sciene Fiction Band & LIUN) Inzwischen ist es für mich zum Ritual geworden, ein Mal im Jahr ins Theater zu gehen und wer nun glaubt, ich hätte das Metier gewechselt, irrt. Ich war schon immer auf der Suche nach neuen Sounds und Bands. Dabei landet man unvermeidlich in Randgebieten des Jazz. Das ging mir auch so, als ich das erste Mal „Illuminations“ von Santana oder „Symbiosis“ von Jazz Q Prag hörte. Das ist schon sehr lange her. Hier in Halberstadt traf ich, befördert durch eine Konzertreihe des Saxophonisten Warnfried Altmann in der Festung Mark, auf faszinierende neue Klangwelten. Der Künstler stieß, gemeinsam mit dem Percussionisten Hermann Naahring, für mich verborgene Türen auf. Folgerichtig landete ich auch bei der Jazz-Nacht in Halberstadt. Deren 23. Ausgabe, mein drittes Konzert dieser Art, findet nämlich im Theater statt. Ich habe nicht die geringste Vorstellung, was mich erwarten wird, null Ahnung, aber genug Neugier, was das Gaga Trio und die Science Fiction Band plus LIUN für Überraschungen bieten werden. Jazz „Made In Germany“ ist angesagt. Nur zehn Minuten Fußweg, da kann ich mir Zeit lassen. Im Foyer steht man schon dicht gedrängt, als ich eintreffe. Langsam füllt sich auch der Saal und ist letztlich rappelvoll. Nach drei Jahren Pandemie ist das kein Wunder. Vor Beginn berichtet der Vorsitzende des Vereins „Halberstadt jazzt“, Klaus Huch, von einem Schüler, der ihn einst mit einem Gedichtvortrag begeisterte. Dieser junge Mann wandte sich der Musik, dem Jazz, zu und heute steht Johannes Wasikowski (piano) mit dem GAGA TRIO auf der Bühne dieses Hauses. Das Publikum jubelt und tobt, als er und die Musiker die Bühne betreten. Aus einem blauen Lichtnebel huschen Pianotupfer, unterstützt von sanften Basstönen, in den Saal. Die schmeicheln den Ohren, Gitarre und coole Rhythmen ergänzen die leisen Melodieansätze und drängen zu mehr Dynamik. So baut sich allmählich eine dezent hymnische Stimmung auf, die im gemeinsamen Spiel kulminiert und eine Weile anhält. Noch etwas ungewohnt, aber nicht ungewöhnlich, wie sich die Parts im freien Spiel miteinander verweben und schließlich wieder lösen. Dieses erste Stück, dem die vier Musikanten sogleich ein zweites folgen lassen, empfinde ich als angenehm. So als würden mich das Trio und der junge Mann am Piano an die Hand nehmen und mich locken wollen. Die Musik folgt, so mein Empfinden, ähnlichen Mustern, nur in anderen Grundsstimmungen. Der erwartete Schock ist ausgeblieben, mit der Nummer „Barcelona“ aber haben sie meine Ohren geöffnet, mich entspannt. Ein drittes Stück ist sehr meditativ angelegt, wobei das fließende Thema von der Gitarre umspielt und variiert wird. Am Piano sitzt Johannes Wasikowski, nur auf seine Tasten konzentriert. Dicht bei ihm am Flügel entlockt Lorenz Heigenhuber dem Bass warme tiefe Töne. Weit rechts und der rechten Seite im Saal auch seitlich zugewandt, konzentriert sich Werner Neumann auf seine Gitarre und nur, wenn er seinem Instrument solistische Passagen entlockt, kommt ein wenig Bewegung in dessen Körper. Einzig Gaga Ehlert, der Schlagzeuger im Hintergrund, ist ständig auch körperlich in Bewegung und explodiert förmlich bei solistischen Ausflügen. Dann tobt der Saal, denn der Schlagzeuger begeistert uns alle. Die weiteren Stücke wie „Mahndorf“, übrigens ein kleiner Ort nahe Halberstadt, und „Walzer ohne Worte“, empfinde ich eher cool und das Spiel des Trios sehr „akademisch“ auf hohem handwerklichem Level dargeboten. Ein einziges Mal nur, nämlich während des Stücks „Inner Earth“, wirkt die Musik auf mich sehr kompakt, nicht mehr streng, und mit vielen solistischen Beiträgen aller vier Musiker aufgelockert. Ein wenig mehr Wagnis hätte mir gefallen können, aber das ist nur das Empfinden als Laie. Der ganze Saal bedankt sich mit viel Applaus Die aufziehende Nacht ist erstaunlich mild. Auf dem Vorplatz des Theaters vertrete ich mir, wie viele andere auch, die Beine und tanke frische Luft. Außerdem muss ich das Gehörte sacken lassen und den Kopf für Neues frei schaufeln. Einige Minuten später sitze ich wieder im Saal. Von frischer Luft keine Spur mehr, aber die Bühne ist umgestaltet und meine Neugier auch wieder da. Jazzt kann’s losgehen. Mit Rhythmusgruppe, Piano plus Keyboard mit Computer, links auf der Bühne, sowie am rechten Rand eine Bläserabteilung - Saxophon, Flöten, Oboe, Trompete und Posaunen - agiert ein kleines Orchester auf den Bühnenbrettern. In der Mitte ein Gesangsmikrofon für eine Lady, die überraschen wird. LIUN schreitet zu pulsierenden Grooves, analog von Bläsern und digital von Keyboards erzeugt, zum Mikro. Mit einer unglaublichen Leichtigkeit ergänzt ihre glasklare Stimme den Sound, umschmeichelt ihn wie eine zarte Illusion und ihre Hände beschreiben dabei ein imaginäres Etwas. Was ist das denn? Mir ist, als würde da vorn etwas unglaublich Entrücktes ablaufen, betörend und unwirklich. Als diese Sound-Melange endet, fühle ich erst mal nichts und bin dennoch emotional überwältigt. Kaum zu glauben. Beifall, Stille und schon pulsiert es wieder im blauen Bühnenlicht. Völlig anders und dennoch irgendwie gleich. Über den psychedelisch anmutenden Rhythmen „tanzen“ die Bläser. Der Mann hinter den Keys spielt nun ein Saxophon, das sich deutlich von den anderen Bläsern melodisch abhebt, während LIUN über die Bühne gleitet, sich wieder stimmlich in den Sound integriert. Ich verstehe was von “Watching The Moon“ und ja, diese Musik scheint in den Tiefen des Universum, gleich hinter dem Mond, ihren Ursprung zu haben, denke ich, derweil zwei Flöten, eine Melodie suchend, sich gegenseitig umspielen. Das ist grandios und klingt auch so. Sollte jemand einen Vergleich brauchen, dann kämen Sequenzen der frühen Pink Floyd sowie Einwürfe von Chick Corea diesem Sound nahe. Doch Vergleiche hinken, in diesen Minuten erst recht. Ich bin begeistert, auch wenn der Gesang im Klanglabyrinth zu versinken scheint und bei mir eher als Vokalisen, denn als Wortgesang ankommt. Passt dennoch hervorragend! Was mich in diesen Minuten wirklich begeistert, ist der kompakt grandiose Sound, den über weite Strecken das Spiel des Bassisten treibt. Der Mann mit Schiebermütze im Hintergrund kniet sich förmlich in sein Spiel und zaubert Läufe auf’m Kontrabass, für die man mehr als alle Finger einer Hand bräuchte. Großartig! Das fällt mir besonders bei „Medusa’s Champagne“ auf, aber auch später, während des langen „Stick Freeze And Die“, das intensiv sphärisch den Raum dominiert. Was diese Bläsergruppe an raffiniert und wohldosierten Einwürfen fabriziert, ergänzt sich eigenwillig harmonisch mit rhythmischen Abfolgen der digital erzeugten Sounds und dem Drive von Bass und Schlagzeug. Mittendrin die graziöse Stimme von LIUN, eigentlich Lucia Cadotsch, die sich in der Schweiz im Jazz-Gesang ausbilden ließ, der eigenartig cool und leicht entrückt, wunderschöne Phrasen, manchmal einem Instrument gleich, in das Klangbild einfügt. Sie steht einfach nur da, untermalt die Stimmungen tänzelnd sowie dezent gestikulierend und wirkt genau deshalb nahezu perfekt. Die Bühne ist meist abwechselnd in blaues oder rotes Lichtspiel getaucht. Diese extravagante Komplexität, in der man so viel Leichtigkeit spüren kann, begeistert mich zunehmend. Der Name Science Fiction Band erklärt sich inzwischen auch ganz logisch. Chapeau, dieser Jazz rockt, er vibriert und scheint aus einem zukünftigen Sein hierher zu gelangen! Ganz allmählich bekomme ich eine Vorstellung davon, wie der Name Science Fiction Band entstanden sein könnte oder welche Programmatik er umschreibt. Es ist gar nicht so sehr die Kombination Bläser, Tasten, Rhythmus und Gesang, sondern wie die Möglichkeiten und Fertigkeiten sich zu einem Ganzen fügen, ohne krampfhaft konventionelle Wege zu beschreiten. Ich habe eher das Gefühl, diese Klänge fügen sich locker ineinander, Improvisation entsteht zwanglos und scheint traumhaft leicht. Doch hört man genau hin, fühlt man regelrecht, wie verschachtelt und verwoben die Instrumente und Sounds miteinander spielen und die Vokalparts graziös leicht erscheinen lassen. Egal, wie man das nennt, es ist große und frische Kunst, weitab aller aufgezwungenen Hörgewohnheiten. Das Publikum im Saal tobt, Pfiffe gellen und es gibt Standing Ovations, als auch dieser zweite Part beendet ist. Glückliche Gesichter im Saal und auf der Bühne sagen alles. Auch ich fühle mich eigenartig überwältigt, muss all das gerade Erlebte sacken lassen. So mancher assoziiert mit dem Wort JAZZ wahrscheinliche eine Stereotype, die es so gar nicht gibt. Man macht sich eine Vorstellung, meist von Improvisation gleich Durcheinander, und liegt meilenweit daneben. Genau das hat dieses Konzert, vor allem aber die Science Fiction Band mit LIUN, mal wieder grandios bestätigt. Kriecht heraus aus Euren Schubfächern und befreit Euch von den Schablonen, die Euch nur einengen! Draußen im Foyer sitzen LIUN (Lucia Cadotsch) und Wanja Slavin, der Produzent, Soundtüftler und Saxophonist, um mit den Gästen zu plaudern oder CDs zu signieren. Ich bin derart aufgeputscht, dass es mir schwer fällt, ein Kompliment zu formulieren. Doch den Bassisten zu loben, gelingt mir fehlerfrei. Will heißen, es war ein grandioser Abend und ich werde Stunden brauchen, das Gehörte zu verarbeiten. DANKE den Jazz-Freunden von Halberstadt und allen, die den Konzertabend ermöglicht haben. Die Jazznacht 2024 ist fest eingeplant – wer begleitet mich?