Seine Welt ist Klang - Hermann Naehring zum 60. Geburtstag
Frankfurt/Oder, 19. April 2011, 19,30 Uhr, Kirche St. Gertraud
Eine Welt ohne Klang? Eine Welt ohne Geräusche, Grillenzirpen, Bienensummen, Wasserplätschern, Kinderlachen und
Trommelschläge in der Luft? Nein, auf gar keinen Fall. Unsere Welt ist Klang – Nada Brahma – sie ist voller Erfahrungen, die
schon andere vor uns machten und aus der Summe all dessen vermögen wir zu schöpfen. Auch und gerade was Klänge
und Künste betrifft. So gesehen und gehört ist unsere Welt voller Musik. Man muss sie nur entdecken und hören wollen.
Einer, der so denkt und so lebt und dieses „Die Welt ist Klang“ zu seinem Lebensstil als Musiker gemacht hat, ist HERMANN
NAEHRING, der leise Mensch und virtuose Klangkünstler in unserer Mitte, der von sich selbst sagt: „Musik ist die
Ausdrucksform meines künstlerischen Lebens und insofern auch wie das ganze Leben universell kombinierbar mit allen
anderen Künsten und deren ‚Lebensart’. Vom ersten Tag an war klar, dass ich alle mir zugänglichen Bereiche der Musik
erforschen werde und vom Orchester bis zum Solospiel alle Bereiche in meinem Leben zulassen werde. “
Nun hat auch er die runde 60 erreicht und wird zurückblickend sagen können, dass er einen Großteil dessen, was er sich
einst als Lebensmaxime vornahm, in die künstlerische Tat umsetzen konnte und er hat wohl auch „den richtigen Beruf für
mich in der richtigen Zeit“, wie er selbst formuliert. Wenn das einer von sich und seinem Leben sagen kann, dann hat er
sicher auch viel auf diesem Weg erleben dürfen und vielleicht auch so manches auf den Weg gebracht. An solch einem Tag,
den zu erleben so manchem Musikerkollegen leider nicht vergönnt war, ist nicht nur Gelegenheit zur Rückschau, sondern
vielleicht auch ein kurzer Moment zum Innehalten. Feiern im umgangssprachlichen Sinne ist nicht das, was zum Leben
dieses Mannes passen würde. Er sucht sich eher einen passenden Raum, einen, in dem Leben und Gelebtes beinahe zu
fassen sind, ein Raum voller Geschichte(n) und Klänge. Die Kirche St. Gertraud in Frankfurt an der Oder ist so ein Ort.
Das große, aus roten Steinen erbaute Gebäude, der evangelischen Kirchgemeinde steht mitten im Zentrum der Oderstadt.
Die wohlhabende Innung der Frankfurter Gewandschneider ließ im Jahre 1368 eine Kapelle bauen, um Wanderern und
Kaufleuten eine Stätte der Ruhe und inneren Einkehr zu geben. Der Hauch von Geschichte umweht heute diesen schönen
Kirchenbau der St. Gertraud und wer das Innere betritt, wird spätestens vor dem prunkvollen Marienaltar eine Weile
verharren. Ein wenig von der Hatz des Alltags fällt ab, man kommt innerlich zur Ruhe und eine Melodie klingt leise und
unhörbar in meinem Kopf: „Tritt ein, in den Dom, die Größe des Menschen zu ehren.“ Wer vor so einem eindrucksvollen
Kunstwerk steht, versteht auch den Gleichklang der Künste, gleich ob in Holz geschnitzt oder in Klänge gekleidet.
Viele sind gekommen, um HERMANN NAEHRING mit ihrer Anwesenheit zu ehren und der steht vor seinen vielen Gästen,
die überall bis in die letzte Reihe Platz genommen haben, und weiß vor Rührung kaum ein Wort zu sagen, außer, dass er
sehr glücklich ist, uns alle hier zu sehen. Er bittet seinen Freund und Musikerkollegen ALBRECHT RIERMEIER zu sich nach
vorn und dann lösen beide den Rhythmus aus, der in den nächsten zwei Stunden in viele ganz unterschiedliche Klänge
münden wird, um Klänge, Rhythmen und Grooves miteinander zu verweben. Die Naehring-Komposition „Monochrom I“
beginnt im Takt eines Metronoms und steigert sich Stück um Stück zu einem wahren Orkangewitter von Klängen, um
irgendwann später wieder leise tickend im Gewölbe über uns auszuklingen.
Vor der Sauer-Orgel aus dem Jahre 1879, hoch oben über unseren Köpfen, hat Prof. HANNS-GÜNTHER WAUER an der
Königin der Instrumente Platz genommen und von dort erklingt der Choral „Wer nur den lieben Gott lässt walten“. Das
wuchtige Musikstück endet in freier Improvisation und Naehring demonstriert eindrucksvoll, wie spannend und auch
abwechslungsreich man mit Klanginstrumenten Töne erzeugen kann. Ganz anders die kurzen Ausschnitte aus dem
Programm „Männertöne – Weiberworte“, die uns danach von CARMEN WINTER gemeinsam mit HERMANN NAEHRING zu
Gehör gebracht werden. Das Spiel mit den „Worten der Weiber“ und deren Interpretation durch die „Töne der Männer“
verleitet zum Nachsinnen und Lächeln gleichermaßen. Die beiden werden wissen, wovon sie uns da erzählen wollen und
wer mochte, konnte in einem der Pausengespräch mehr darüber erfahren.
Die beiden Multi-Instrumentalisten NAEHRING und RIERMEIER kennen sich seit vielen Jahren. Das spürt man ganz deutlich
bei „Buddy’s Bolero“, einem Groove mit kleinen „Aussetzer“, der immer verzwickter und vertrackter wird und sowohl den
beiden als auch uns in den Bänken richtig Spaß macht. Wir erleben ein polyrhythmisches Feuerwerk der Klänge und so
langsam bekommt man eine Ahnung davon, was mit all den Becken, Röhren, Schüsseln, Gefäßen und anderen Utensilien
für eine faszinierende Welt der Töne zu erzeugen geht. Ich versinke langsam im Zauber der Musik, lasse mich fallen in ein
fiktives Universum irgendwo zwischen Oldfield und Tangerine Dream und sehe staunenden Auges, dass da vorn „nur“ zwei
begnadete und besessene Musiker hinter Marimbaphon und Vibraphon Töne erzeugen, die mich treiben und mich schweben
lassen. Später werden Rhythmen aus einem Kürbis die Klangcollagen ergänzen und Grooves entstehen, die eigentlich nicht
enden sollten. Wer’s nachvollziehen möchte, besorge sich die CD „Double Percussion“ und lasse seine Ohren weit geöffnet.
Für Hermann Naehring ist Musik alles andere als nur Selbstzweck, kein Schaufenster, in dem man steht, sich unerreichbar
bestaunen lässt. So universell, wie er Musik versteht, so geht er mit diesem Vermögen auch um. Die von ihm gegründete
Musikschule „percussion local“ dient einzig dem Zweck, diesen Erfahrungsschatz an andere, vorzugsweise jüngere, weiter
zu reichen. Die Überraschung ist perfekt, als er plötzlich einige seiner anwesenden Schüler zu sich bittet, um mit ihnen
gemeinsam zu musizieren. Dies war nicht geplant und das kann man in den Gesichtern auch ablesen. Doch mit den
Instrumenten in den Händen schwindet diese Anspannung und wir erleben ein furioses abschließendes Klangfeuerwerk.
Naehring selbst formulierte das schlicht so: „Wissen weiterzugeben hat immer die Seite des Lehrens und Lernens, vor allem
in künstlerischen Berufen.“ Das war gestern, am Abend seines 60. Geburtstages, deutlich zu spüren.
So ein Abend hat immer, gleich wie er begangen wird, wie ich aus mancherlei eigener Erfahrung inzwischen weiß, etwas
sehr besonderes, einmaliges und auch etwas von einem anderen neuen Aufbruch. Da draußen rauscht das pralle Leben
unaufhaltsam weiter. Wir befinden uns mittendrin, können uns treiben lassen oder auch gestalten. Wieder mal hab’ ich
einen erlebt, dem diese Lust auf Gestalten, auf Weitergeben und auf Anregen eigen ist und dennoch bescheiden formuliert:
„Mit 60 Jahren ist der Blick in die Zukunft eine heikle Angelegenheit und so wäre ich froh, einfach so schön weiter zu
machen mit viel Drum (-her Drum).“ Darauf ein Gläschen Champus zu früh morgendlicher Stunde und dann wieder in den
Rhythmus des Lebens einsteigen und die Grooves selbst vorgeben. Dann wird es uns gemeinsam gelingen, aus einzelnen
Tönen einen universellen Gleichklang von Schwingungen zu machen, gleich an welchem Ort und noch gleicher, aus welcher
„Schublade“ wir schöpfen. Je mehr wir im Gleichklang „ticken“, ohne gleicher als gleich zu sein, desto besser finden wir
zueinander, um uns zu verständigen und zu verstehen, so meine ganz persönliche Erfahrung. Dafür hat HERMANN
NAEHRING eine Menge getan und auf noch mehr kann man sicher hoffen und warten.