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Nikolaustag 2017 – meinem Papa zum 100. Geburtstag 06.12.2017 Heute ist Nikolaustag. Ein ganz normaler Tag in der Vorweihnachtszeit. Für mich ist dieser Tag ein besonderer Tag, ein Tag der Erinnerung und heute Anlass für eine Hommage an meinen Vater: Das Jahr 1917 geht als das Jahr der (Großen Sozialistischen) Oktoberrevolution in die Geschichte ein. Im gleichen Jahr, am 6. Dezember, dem Nikolaustag, erblickt mein Vater, Hans Helms, das Licht der Welt. Er wird, soweit ich weiß, eine glückliche Kindheit haben und mehrere Jahre Violine üben. Da ist ein erster großer Weltkrieg gerade vorüber und wahrscheinlich hoffen die Menschen, es möge niemals wieder ähnliches geschehen. Doch mein Vater ist gerade 22 Jahre jung, als diese Hoffnung 1939 mit Beginn des 2. Weltkrieges auf bestialische Weise zerschlagen wird. Von nun an trägt er Uniform und kommt als Rettungssanitäter und Fallschirmjäger zum Einsatz. Beim Bombenangriff auf Dresden wird Hans Helms zwei seiner Kinder und die erste Ehefrau verlieren. Sein erstgeborener Sohn starb bereits zuvor an den Folgen von Diphtherie. Im Schutt und der Asche des globalen Tötens verliert er seine ganze Familie. Das hat ihn für den Rest seines Lebens geprägt. Im Alter von 30 Jahren lernt Hans Helms durch einen glücklichen Zufall meine Mutter Marianne, eine geborene Sattler, aus Leipzig kennen. Ende September 1949 werde ich in Leipzig geboren. Wenn man so will, bin ich sein viertes Kind, aber sein Erstgeborener in zweiter Ehe. Zwei Jahre später erhalte ich noch einen Bruder. Beide wachsen wir in Großthiemig, einem kleinen Schradendorf auf und verbringen dort eine wirklich glückliche und von Sorgen freie Kindheit. Hier werde ich auch eingeschult. Danach verlegt die Familie ihren Wohnsitz in die Kleinstadt Elsterwerda. Es ist das Jahr 1957, ich gehe in eine zweite Klasse in die Husemann-Schule und werde Jahrzehnte in Elsterwerda leben und wohnen. In Elsterwerda wird mein Vater Zeit seines Lebens Direktor einer Sonderschule/Hilfsschule und meine Mutter die Stellvertreterin in dieser Einrichtung sein. Zu Hause erschien es mir manchmal fast anders herum. Mit den ersten Tagen in Elsterwerda erhielt ich Violinenunterricht in der Musikschule, „durfte“ ich das Musizieren auf den vier Saiten erlernen. Mein Vater wollte offensichtlich seinen Traum mit mir vollenden. Der Versuch scheiterte jedoch, als ich im alten Röhrenradio im Wohnzimmer Bekanntschaft mit dem „Yeah! Yeah! Yeah!“ der Beatles machte. Sieben lange Jahre des Übens waren damit beendet und die alte Wandergitarre meines Vaters ab sofort das Objekt der Begierde. Die Klampfe hatte er aus der Krieggefangenschaft (in Ägypten) mitgebracht und manchmal nahm er sie in die Hand und spielte „Clementine“, “Good Night Ladies” und andere Lieder. Ich ließ mir also die Griffe für C-Dur und G-Dur erklären und begann, ihm nachzueifern und außerdem Sachen wie „Skinny Minnie“ nachzuspielen, die ich von der Schüler-Combo bei einer Penne-Fete gehört hatte. Ich wurde Beat-Fan, meine Haare wurden länger und mein Vater ließ mich gewähren. Er selbst war stolzer Träger einer Glatze und dachte wohl an Karl Marx. Als er merkte, dass es mir ernst war, erhielt ich eine „Schlaggitarre“ und später ein Tonabnehmerset dazu. Er kaufte mir ein Tonbandgerät „Qualiton“ und ich durfte jeden Sonnabend den Rias-Treffpunkt, von 16.00 bis 18.00 Uhr, von der Fernseh- und Radiotruhe „Carmen“ mit Mikrofon aufnehmen. In der Zeit war das Zimmer für den Rest der Familie tabu. Während meiner Armeezeit vom Herbst 1968 bis zum Frühjahr 1970 saß man Vater samstags vor der Kiste und nahm für mich die Hits von Rias II auf, die ich mir an den Urlaubswochenenden anhören konnte. Die Hits der 1960er Jahre drückte ich mir, so gut es eben ging, zwischen die Bünde der Gitarrensaiten, spielte in der nächsten Schul-Combo mit und machte Bekanntschaft mit der Singebewegung. Die Lieblingslieder meines Vaters waren damals „Sorry Suzanne“ von den Hollies und „No Milk Today“, gespielt von Herman’s Hermits. In jenen Tagen ist mir wohl auch klar geworden, dass ich nicht nur einen wundervollen Vater, sondern auch einen richtigen Freund an meiner Seite hatte. Dieses Gefühl hat sich über all die Jahrzehnte bis heute gehalten und macht mich immer noch stolz und glücklich. Es gibt eine Menge Episoden, die das auch belegen. Eine jedoch steht fast symbolhaft dafür, wie sein Umgang mit mir war. An einen Sonnabend in den frühen 1970er Jahren spielte die Klaus Renft Combo zum Tanz und am nächsten Sonntagvormittag im gleichen Saal noch zum Konzert. Mein Vater mochte Harry Belafonte sehr und ich hatte ihm vorgeschwärmt, dass die Leipziger Combo den „Banana Boat Song“ live in ihren Konzerten spielte. Also ging mein alter Herr mit meinem Freund Hans-Georg und mir zur Klaus Renft Combo, um sich selbst zu überzeugen. Georg kann sich heute noch gut erinnern, wie begeistert ein Schuldirektor zwischen den Beat-Jüngern saß, sich über die Musik freute und voller Begeisterung mit uns jubelte und tobte. Das ging so weit, dass er die Renft Combo während ihres ersten TV- Auftritts mit seiner Kamera (plus Stativ) vom Bildschirm abfotografierte. Diese Fotos habe ich heute noch. Auch die Sehnsucht nach den unermesslichen Weiten des Universums, habe ich ihm zu verdanken. Er war es, der mir glaubhaft versicherte, dass irgendwo in diesen gigantischen Tiefen Vernunft existiert, Lebewesen in einer hochentwickelten Welt. Dass sie dies erreicht hätten, könne nur daran liegen, dass es dort keine Kriege, keine Ungleichheit, sondern nur das ehrliche Streben nach stabiler Gemeinschaft geben würde. Und erst, wenn auch wir jede Kriegslust überwunden haben werden, würde ein Kontakt zustande kommen können, weil wir Menschen eher nicht reif dafür sind. Ganz egal, wie komplex und wie hochentwickelt unsere Technologien gerade wären. Daran glaube auch ich ganz fest. Selbst meine schon zu DDR-Zeiten kleine, aber recht exklusive Schallplattensammlung geht im Grunde auf ihn zurück. Der begeisterte Briefmarkensammler pflegte eine umfangreiche Korrespondenz in alle Winkel des Planeten, also auch nach England. Ich bat ihn, ob einige seiner Briefpartner mir eventuell Fotos der damals aktuellen Rock-Bands schicken könnten. Es kamen einige Zeitungsartikel zurück und ein großes Foto aus dem Melody Maker, auf dessen Rückseite, unter den Kurz-Rezensionen, auch die Anschriften der Schreiber gedruckt waren. Sie alle wurden von mir angeschrieben und von einem kam ein Brief zurück. Das war am 10. August 1971 und seitdem tausche ich mit David auf den Orkney Isles Gedanken, Fotos, Neuigkeiten und Schallplatten aus. Meinem Vater hat es stets große Freude bereitet, die Plattensendungen und andere Päckchen mit mir neugierig zu öffnen. Die Erfahrungen des Krieges und das Leid, das er erlebte, waren sicher auch der Grund, weshalb mein alter Herr einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit und Wahrheit entwickelt hatte. Sozialismus und Frieden gehörten für ihn zusammen und so trat er irgendwann auch in die SED ein, die er Anfang der 1970er Jahre wieder verließ, um seinen Ärger über das Unvermögen einiger Leute auszudrücken. Ich habe diesen Schritt erst später nachvollziehen können und seinen Frust gespürt, der sich im Laufe der Jahre angestaut hatte. Er konnte es zu Wendezeiten nicht aushalten, dass Menschen, die sich bisher geduckt, zurückgehalten und angebiedert hatten, plötzlich die großen Wende-Partisanen gewesen sein wollten und, trotz ihres offensichtlichen Unvermögens, schnell in leitende Positionen kamen. Das auch deshalb, weil sie sich plötzlich als CDU-Mitglied in der „richtigen“ Partei wiederfanden. Es waren genau die gleichen Leute, die ihm vorher auch schon Steine in den Weg gelegt hatten. Es hat ihn einfach nur angekotzt! Gern erinnere ich mich an wunderschöne Urlaubstage im verschneiten Schleusingerneundorf, die wir als Kinder erleben durften oder an gemeinsame zwei Wochen nahe der Ostsee im Schul-Ferienslager. Ich denke heute ganz besonders an gemeinsame Ferientage im Harz, wo wir die Burg Regenstein und das „Schluss Werninenode“, so mein kleiner Cousin, erkletterten. Stets habe ich sein breites Lächeln vor Augen und seine kindische Freude, wenn er jemandem einen Streich spielen konnte. Dabei denke ich eher ungern an einen Schabernack zum Heiligen Abend zurück, als er meinen Bruder und mich in der Maske vom Weihnachtsmann einen gehörigen Schrecken einjagte und dann auch noch Gesang von uns hören wollte. Und ja, manchmal konnte der Alte Herr auch streng und unnachgiebig wie so ein Schulmeister sein ich war und bin ein Lehrerkind! Hans war ein Genießer. Es kam vor, dass er mich auf ein Bier in die Kneipe einlud oder abends ganz spontan in die Küche ging, um sich etwas zu „brutzeln“. Meist ein Spiegelei, aber auch kleine Steaks oder ein Stück Fisch landeten in der Pfanne, um nach Acht vernascht zu werden. Die Tradition pflege ich immer noch und vermutlich wird sich mein Sohn ebenfalls nicht darum drücken können. Die Liebe zur Musik, die Liebe für das Leben und die für den Genuss gab er mir mit auf den Lebensweg. Aber auch die Achtung vor anderen Kulturen, die vor den Lebensweisen anderer Menschen und Interesse, alles näher kennenzulernen, trage ich heute stolz mit mir herum. Er wäre sicher gern nach HongKong zu einem Briefpartner geflogen, hätte gern Judy in ihrer Tasmanischen Heimatstadt Hobart getroffen und wäre sicher gern zu Hause bei Betty in den USA gewesen. Dies und vieles andere hat nicht sein sollen. Manchmal hat ihn diese Unterdrückung wütend gemacht, doch als Besuch aus den USA vor der Tür stand oder Judy bei uns zu Hause weilte, war er glücklich und seine Frau, meine Mutter, stolz wie Bolle. Einige dieser Souvenirs aus fernen Ecken dieser Welt stehen noch heute in meinem Zimmer. Es fühlt sich an wie der gute Geist von Papa, der über mich und seine Nachkommen wacht. Als mein Vater seinen ersten Enkel, meinen Sohn, im Arm halten durfte, habe ich in seinen Augen das ganze Glück dieser Welt wie im Spiegel entdecken können. Dann strahlte er und sein Mund zeigte ein breites Grinsen bis zu den Ohren. Die Liebe, die ich bisher erhalten hatte, schüttete er von da an über seinem ersten Enkelkind, und allen weiteren, die noch folgen sollten, aus. Mein Sohn ist noch heute, fast vierzig Jahre nach diesen Momenten, seinem Großvater tief im Herzen verbunden und auch das macht mich stolz. Irgendwann, zum Ende eines erfüllten Arbeitslebens, hat er die Diagnose Krebs erhalten. Das Rauchen hatte er schon lange vorher aufgegeben und stattdessen jeden Morgen eine lange Joggingrunde durch die Stadt gedreht. Dafür habe ich ihn bewundert, der Krebs kam dennoch. Vor uns Kindern hat er das geheim gehalten, bis es nicht mehr zu übersehen war. Er durfte noch miterleben, wie sein Großer, der sich zu DDR-Zeiten nie ein Auto zulegen wollte und die Fahrschule verweigerte, den Führerschein für D-Mark machte und im eigenen Auto fuhr. Die Wende hat ihm, so wie sie ablief und die Wendepiraten dieses Land gegen Bananen, Autos und Pornografie eintauschten, ganz und gar nicht gefallen. Man solle stolz, gleichberechtigt und erhobenen Hauptes in die Freiheit gehen können, war sein Credo, und nicht darum betteln müssen. Er musste noch miterleben, wie begonnen wurde, das Land, das er auch mit aufgebaut hatte, über Nacht einen fremden Besitzer erhielt, dem die Mehrheit blind zujubelte, ehe sie in die Arbeitslosigkeit geschickt wurde. Da hatte ihm der Krebs schon die meiste Energie geraubt. Am 29. März 1991, morgens kurz nach 6.00 Uhr, hat mein Vater losgelassen. Am Abend zuvor saß ich an seinem Bett und habe im versprochen, ein anständiger Mensch zu bleiben. Ich ahnte wohl, dass es schlimm um ihn stand, aber nicht, dass dies mein letztes Zusammensein mit ihm sein würde. So etwas verdrängt man gern. Paps wurde lächerliche 73 Jahre alt und manchmal denke ich, er hatte keine Lust auf ein Deutschland, in dem all die Wendehälse und Pappnase, die ihm zuvor ständig im Wege herum standen, nun plötzlich das Sagen und die Macht hatten. Da war die Enttäuschung wahrscheinlich viel größer, als die Lust auf neues Erleben. Ich kann es ihm nicht wirklich verdenken. Heute, am 6. Dezember 2017, hätte mein alter Herr (vielleicht) seinen 100. Geburtstag feiern können. Ob er es gewollt hätte, da bin ich mir nicht so sicher. Prost Paps, auf mich musst Du noch warten. Erst werde ich 74, so wie Du, und dann schaue ich mal, wie ich die letzten Wendepartisanen noch ärgern kann und noch miterleben darf, wie Deine Urenkel aufwachsen, erwachsen werden und vielleicht noch einmal eine ehrliche Chance auf ein selbstbestimmtes Leben, ohne all die Kriegs- und Existenzängste, bekommen und gestalten. Ich denke an Dich, nicht jeden Tag, aber stets, wenn ich mal Musik höre, Gitarre spiele, in Wernigerode bin oder an Burg Regenstein vorbei fahre oder etwas Neues in Sachen Raumfahrt zu hören ist - also sehr oft, mit großer Achtung und noch immer mit unendlich viel Liebe. Mein Vater, mein Sohn, sein Enkel - 1979.