Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Labskaus, weiße Segel und Hannes – Törns auf der Ostsee 10.09.2016 Meinem Freund Hannes Wolfram (3. April 1949 – 09. September 2016) gewidmet. Als Schüler und Jugendlicher habe ich große Teile meiner Sommerferien, so wie es damals üblich und schön war, in Ferienlagern verbracht. Meist in Heringsdorf auf Usedom, aber ich war auch in Born auf dem Darß, in Kühlungsborn und in Rerik. Alle Orte hatten, neben vielen anderen angenehmen Dingen, gemeinsam, dass man bei schönem Wetter weit draußen am Horizont weiße Segel blinken sah. Man ahnte, irgendwo dort hinter dem Horizont geht’s weiter, liegen Dänemark, Schweden und die anderen Länder Skandinaviens, die man wahrscheinlich niemals zu sehen bekommen würde. Das hatte auch in den Schulferien, und später als Jugendlicher, einen faden Beigeschmack. Hannes habe ich zu Beginn der 1980er Jahre bei einem ganz besonderen Lehrgang im tristen Cottbus kennengelernt. Wir lasen alle gemeinsam in schwer lesbaren Büchern und er hatte die seltene Gabe, unverständliche Zusammenhänge in verständliche Worte zu packen und dabei auch noch zu lächeln. Überhaupt war es sein feines Lächeln, das magisch wirkte und ihn zu einem der Menschen machte, die Integration als Charaktereigenschaft jeden Tag neu lebte. Damals wurden wir Freunde, haben viel miteinander unternommen und erlebt, ehe uns diese Zeiten wieder in alle Winde verstreuten. Zuvor hatte er mir noch seine Amiga-Platte von den Swingle Singers, heute selten und gesucht, geschenkt. Hannes hat es dann nach der Wende in den Norden, an die See und nach Hamburg verschlagen. Er hatte schon immer das Herz eines Seemannes und deshalb wurde er ein Seebär und in seiner Freizeit ein Skipper. Jahre später, seine Frau Conny hatte mich zu seinem 50. Geburtstag am 3. April 1999, per Telefon aufgespürt, sagte mein Kumpel Hannes einmal in einem der vielen fröhlichen Momente: „In jeder Landratte steckt auch ein Seemann.“, und so nebenbei und schlitzohrig hat er noch nachgeschoben: „Hast’e Lust, das auszuprobieren?“ Ziemlich vorschnell habe ich damals laut zugesagt, es war ja sein 50. Geburtstag und wir hatten schon „guten deutschen Landwein“ getrunken. Den Rest des Sommers habe ich von Hannes nichts mehr gehört. Im Spätherbst allerdings kam dann ein Anruf aus HH (so wie Hamburg) und die bekannte Stimme sagt mir, dass es im nächsten Jahr in der Himmelfahrtswoche für mich ernst werden könnte und ich noch Lust hätte. Ich könnte Teil der Crew werden, wenn ich denn möchte. Ich wollte. Von da an bin ich einige Jahre lang, immer in der Woche mit dem Himmelfahrtstag, mit einigen rauen Männern - Hannes, Vossi, Fritz, Jürgen, Michael, Dirk & Chris - auf einem Zwölf-Meter-Kahn über die Wellen der Ostsee zwischen den Dänischen Südsee-Inseln und der deutschen Ostseeküste rumgeschippert. Grad so, wie ich es als Jugendlicher im Ostseeurlaub manchmal geträumt hatte. Andere zogen zu Hause mit dem Fahrrad und einem „Bieranhänger“ durch die Natur oder soffen den Kneipern das Bier weg, ich hingegen durfte wirklich das Segeln live erleben. Wir hatten natürlich auch unser Bier an Bord, haben aber erst nach 17.00 Uhr davon getrunken. Meist gingen die Uhren an Bord allerdings vor. Einmal fuhren wir sogar erst in den Norden Dänemarks nach Aalborg und segelten von da aus durch den Langerak bis nach Hals, einem ganz kleinen Hafen an der Alborg Bugt und dann weiter über den Skagerrak bis zur Insel Laesö. Nach einem nächtlichen Zwischenstopp und mit einem kräftigen Wind, segelten wir weiter in Richtung Schweden, in die Schären bis nach Marstrand und dann wieder diese Strecke zurück. Das alles hat tatsächlich eine Woche gedauert und fasziniert mich selbst heute noch, wenn ich nur daran denke. Marstrand liegt auf zwei der vielen Schären-Insel, allerdings sind beide etwas größer und als ich dann den Hügel darauf, mit der Festungsanlage, erklettert hatte, bot sich mir ein imposanter Rundblick über die Stadt, die übrigens total frei von Autos ist, den Hafen und die See. Ich habe dort oben gestanden und in die Unendlichkeit von Ostsee und Himmel gestaunt. Die Übernachtung erfolgte wie immer an Bord in einer der kleinen und engen Kojen. Auf den meisten Seglern ist Platz für 10 Leute vorhanden und wenn man einigermaßen miteinander auskommt, macht das richtig Spaß. Jedenfalls habe ich das stets so empfunden. Es ist ein kaum zu beschreibendes Gefühl, jedenfalls für eine Landratte, wenn der Kahn mit Motorkraft endlich aus dem kleinen Hafen raus ist und die „Lappen“ hochzogen werden. Bei günstigem Wind wird noch die „Genua“, ein Segel am Bug, dazu hoch gezogen. Dann legt sich das schnittige Etwas auf eine Seite, der Wind bläst in das Leinen und du kannst über deine Füße nach unten direkt in die brausende Gischt sehen, die bei der Fahrt außenbords entsteht. Karussell fahren oder in der Achterbahn sitzen ist eine glatte Lachnummer gegen dieses Gefühl des Hingleitens mit dem Wind, denn das ist nicht schon nach nur wenigen Minuten vorüber, sondern dauert den ganzen Tag, wenn das Wetter günstig ist. Bei ungünstigen Wetter natürlich auch, nur das Gefühl ist etwas eindringlicher und je nach Situation auch nasser, aber immer noch einmalig. Ich habe bei meinem Törns beides erleben dürfen und kann nicht wirklich sagen, welches Erlebnis das schönere und intensivere war. Noch schöner ist es allerdings, bei leichtem Wind und prallen Sonnenschein einfach nur so dahin zu segeln, leise und kaum spürbar. Außer dem Wasser und dem Wind hörst Du nichts und über dir weitet sich ein strahlend blauer Himmel von Horizont zu Horizont. Kein Telefon klingelt, niemand klopft an die Tür und die kleine Segelwelt ist total im Gleichgewicht. Abschalten von all dem Ballast, den kein Mensch wirklich zum Leben braucht. In solchen Momenten hatte ich weder Termindruck, noch nervige Anfragen und Post vom Finanzamt sowieso nicht. Nichts ist mit diesem Erleben vergleichbar, wirklich nichts damit vergelichbar. Bei zwölf Meter Länge ist überall um dich nur Meer, nichts als Wasser. Um beim den jährlichen Himmelfahrts-Törns nicht leichtsinnig zu werden oder gar zu vergessen, dass ringsum die tiefe See lauert, gab es ein unausgesprochenes „Gesetz“, eine strenge Regel, die besagte, dass vor 17.00 Uhr noch kein Alkohol getrunken werden dürfe. Es ist allerdings vorgekommen, dass es manchmal schon mittags für kurze Zeit 17.00 Uhr war, denn die Uhren auf See oder im Urlaub ticken oft völlig anders, als man es auf Land gewöhnt ist, und Männer auch. Natürlich durfte auch ich, die eingefleischte Landratte, mal der Skipper sein. Es war ein sehr sonniger Tag und wir fuhren mittags von Fehmarn in Richtung Langeland, Dänemark. Das ist eine Tagesfahrt, wenn es die Winde gut meinen. Nach dem Mittagessen übergab mir Hannes das Ruder(rad) und die mittagsmüden Männer legten sich in ihre Lieblingswinkel zur Ruhe. Es wehte ein angenehmer frischer Seewind in mein Gesicht und deshalb bemerkte ich auch nicht, wie gut es die Sonne da oben mit mir meinte. Erst als zwei Stunden später die Kumpels beim Lachen sich kaum noch halten konnten und einer mir einen Spiegel vor die Nase hielt, merkte ich, was geschehen war. Seitdem habe ich bei der Segelei nicht mehr nur auf die Bojen, sondern auch auf den Stand der Sonne geachtet. Wenn man abends in einen der kleinen Inselhäfen einfährt, kommt der Hafenmeister an Bord. Der ist manchmal Post-, Konsum- und Kneipenchef in Personalunion und begrüßt alle Schiffe und Segler, um die Hafengebühr zu kassieren. Die ist eine Art Maut, deren Höhe sich nach der Länge und Breite eines Schiffes sowie der Stärke der Besatzung der Segler richtet. Hannes sagte dann immer, der Kahn wäre 4 Meter lang aber 12 Meter breit, an Bord wären außer ihm als Skipper nur 9 ungebildete Landratten. Gebühr mussten wir dennoch immer zahlen und der Hafenmeister befestigte an der Takelage so ein kleinen Papierschleifchen, die in jedem Ostseehafen anders aussehen. Ein paar hab’ ich als Souvenirs mitgenommen. mein Freund Hannes Wolfram, der Skipper und Seebär Unser Skipper, meist stand Hannes am großen Rad, aber auch Vossi hatte die Berechtigung, haben selten einen der größeren Häfen angesteuert, sondern immer die kleinen und beschaulichen Inseln mit den kleinen Jachthäfen ausgesucht. Das hatte den Vorteil, dass man stets fernab der städtischen Hektik blieb, dass man die Ruhe der See, der kleinen Fischerdörfer und die Abgeschiedenheit auch an den Abenden an Bord genießen konnte. Es hat einen Hauch von Romantik, spätabends oder gar unter der Mitternachtssonne draußen zu sitzen und mit einem Schluck „guten Landweines aus reifem Korn“, wie Hannes zu sagen pflegte, dem Plätschern der Wellen am Bootsrumpf zu lauschen und manchmal auch den Sternenhimmel wirken zu lassen. Auch wenn es keiner glauben mag, ich war niemals seekrank, obwohl ich ziemlichen Respekt vor der Möglichkeit hatte. Aber dank Fritz, einem gebürtigen und waschechten Hamburger Jung, hatten wir immer einen gut gefüllten Magen und genügend Bewegung, wenn man denn wollte, zur Verdauung. Traditionell bestand das erste Mahl an Bord stets aus Labskaus, vom dem ich bisher immer nur gehört hatte und meist nichts Gutes! Erstmals durfte ich also die Erfahrung machen, wie man das Gericht mit der begrenzten Ausstattung einer Kombüse genau so anrichtet, dass es wundervoll herzhaft schmeckt. Traditionell gehört zum Abschluss eines solchen Segeltages ein gutes Bier, Das wohlige Getränk aus Korn oder wahlweise auch aus heimischen Kräutern. Sicher brauche ich nicht extra betonen, dass meist bis in die Nachstunden hinein die wichtigen Fragen des Lebens und des Universums besprochen und die Route des nächsten Tages ausgiebig diskutiert werden mussten. Dabei lauschten die Landratten den reichhaltigen Erfahrungen der älteren Seehasen und den Geschichten der Hamburger Alster-Skipper oft bis weit nach Mitternacht. Unser Lachen hat man sicher gut hören können. In aller Regel hatte dann Vossi, einem Hamburger Bühnenmeister, den nächsten trockenen Knaller gestartet oder uns eine der skurrilen Geschichten eines Seebären erzählt. Das ging bei ihm so schnell, dass ich manchmal mit dem Lachen nicht hinterher kam. Vossi hatte auch einmal so eine schwarze Flagge mit ’nem Totenkopf darauf mitgebracht. Während Hannes dabei eher ein ungutes Gefühl beschlich, zog Vossi die Piratenflagge eines Bühnenmeisters stolz am Mast hoch in den Wind. Leider war niemand auf hoher See in der Nähe, der vor uns hätte Angst haben können. Mit dieser tollen Truppe habe ich insgesamt fünf Törns in verschiedenen Teilen der Ostsee mitmachen dürfen und jeder Törn hatte seine ganz eigenen unverkennbaren Reize. Wir starteten in Großenbrode vor Fehmarn, ein anderes Mal begann der Törn in Ebeltoft auf Oer. Auch die Stadt Aalborg im hohen dänischen Norden war Ausgangspunkt und ebenso der Hafen von Arhus. Das sind alles Orte, die hätte ich als kleiner Junge, als Jugendlicher oder gelernter DDR-Bürger, bestenfalls mit dem Finger auf einer Landkarte besuchen können und dürfen. Seekarten standen mir ohnehin nicht zur Verfügung. Und das Bild am Strand stehend, mit dem Blick hinaus auf die weite See, hatte ich dabei oft vor Augen. Ohne Hannes und ohne Conny, die mich aufgespürt hatte, wäre ich nie und nimmer in den Genuss all dieser Abenteuer gekommen. Dafür bin ich beiden sehr, sehr dankbar. Inzwischen weiß ich aus eigener und erlebter Erfahrung, wie schön es ist, die wunderbare Freiheit und die Möglichkeit zu haben, sich weit außerhalb aller Hoheitsgewässer, auf hoher See mit einem kleinen Zwölf-Meter-Segler bewegen zu können. Immer wenn ich Land sah, habe ich mir dann vorgestellt, wie am Strand jemand hinaus auf die See schaut und dort unser kleines weißes Segel am Horizont blitzen sieht. Inzwischen weiß ich aber auch, dass man sich so eine einmalig schöne Freiheit auch finanziell leisten können muss, will man sie genießen. In diesem Sinne sende ich einen Gruß an die Jungs in Hamburg, die im kommenden Jahr 2010 von Korfu aus zum Törn auf dem Mittelmeer starten werden. Dank der Krise der Finanzmärkte, den damit verbundenen Bonus- Zahlungen an die gebeutelten Bankenmanager und armen Politiker, die alle Kosten vom fleißigen Steuerzahler finanzieren, alle Gewinne aber weiter den Aktionären zukommen lassen, werde ich hier im heimischen EE sitzen und wieder so einen faden Beigeschmack spüren, wie damals am Ostseestrand. Na dann, Freiheit Adieu und Ahoi der Crew von Hannes, der ich dennoch schöne Sonnentage auf den Wogen des Mittelmeeres wünsche. Ich werde die Zeit nutzen, um meine Konten auszubalancieren und anderen Beschäftigungen nachzugehen. Die Erfahrung des Segelns auf Meereswellen unter dem blauen Himmelszelt, werde ich in der Erinnerung mitnehmen. DANKE Euch allen, insbesondere Hannes, dem Freund und Seemann. 1. Nachtrag: Am 10. September 2016 erhielt ich die bittere Nachricht, dass mein Freund und Kapitän Dr. Hannes Wolfram sich auf seine allerletzte Reise begeben hat. Wieder einmal hat der Mistkerl Krebs mir einen meiner wirklichen Freunde viel zu früh genommen. Ihm möchte ich diese Zeilen der Erinnerung widmen und werde, seinem letzten Wunsch gemäß, jedes Jahr um die Zeit der Törns, in meinem Fall der Himmelfahrtstag, ein Fest für ihn feiern – Ahoi Hannes! Er ist noch einmal hinaus gefahren …. Am 7. Oktober 2016, 10.00 Uhr, wird Hannes, seinem letzten Wunsch entsprechend, in der Lübecker Bucht der See übergeben. Nur von seiner Frau Conni sowie den beiden Töchtern Anne und Jule begleitet, wird der Seemann seine letzte Reise antreten. Das Datum würde ihn zu einem Grinsen verleiten. Ich indes werde innehalten, an gemeinsame Stunden denken und mir die Tränen aus den Augen wischen. 2. Nachtrag: Am heutigen 10. März 2020 erhielt ich per Mail die traurige Nachricht, dass Jürgen Hering, mein Segel-Bruder aus Berlin (und Hamburg), mit 71 Jahren den Kahn des Lebens verlassen hat. Er ist einfach friedlich eingeschlafen. Gute Reise Jürgen, meine Gedanken begleiten Dich und Hannes auf Eurer gemeinsamen Reise.