Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
In Memoriam Gottfried Schmiedel - ein Rastloser in Sachen Musik 24.08.2022 (24.08.1920 – 11.11.1987) „Man trifft im Laufe seines Lebens eine Menge Leute, zumal Musik die verbindende Kraft war und ist“, schrieb ich kürzlich, um an eine Begegnung mit alten Freunden zu erinnern. Das möchte ich nun ein zweites Mal tun, wieder gedanklich ein halbes Jahrhundert zurück spulen und an Gottfried Schmiedel erinnern: Irgendwann in den frühen 1970ern saß ich bei ihm zu Hause, auf der Veranda, in einer alten Villa im Dresdner Zweiten Steinweg 1. Mit ihm konnte ich stundenlang über Musik reden, während nebenbei Bluesplatten liefen. Wir saßen, tranken Rotwein und philosophierten - über die Rolle der Bedeutung und populäre Musik. Nicht todernst, sondern mit lächelnden Gesichtern. Er, der überaus gestandene Mann, Musikwissenschaftler, Journalist, Vortragsreisender sowie Jazzliebhaber und ich, ein Grünschnabel, mit riesengroßer Begeisterung für all die damals aufkommenden Beat-Gruppen und deren neue Lieder. Wir blätterten in westlichen Zeitungsschnipseln mit dem Aufkleber „VEB Zeitungsausschnittdienst“ und ich durfte mir einige aussortieren. Das war eine Einrichtung, die Journalisten und Musikwissenschaftler in der DDR mit ausgewählten Zeitungsausschnitten internationaler Musikfachzeitschriften versorgte. Zu Hause bei Gottfried war es urgemütlich. Viele Regale voller Bücher und haufenweise Schallplatten: Klassik, Jazz, Blues, Beat und Rock alles, was das Herz eines von Musik besessenen Liebhabers und Allround-Könners brauchte und begehrte. In der liebevollen Unordnung fand man interessante Lektüre zum Stöbern und immer wieder etwas, über das man reden und diskutieren konnte. Dazwischen stand die Tasse Tee oder die Flasche mit Rotwein sowie zwei Gläser. Es war beinahe wie zu Hause, nur viel interessanter. - Vom Kulturbund in Elsterwerda war ein Vortrag über die Beatles angekündigt. Das allein war in den Jahren 1966/67, zumal in der DDR und in einem Provinznest, ein unerhörter Paukenschlag. Also ging ich dorthin. Wie einst fahrende Sänger des Mittelalters, zog der freischaffende Musikwissenschaftler, Journalist und Publizist Gottfried Schmiedel über Land durch die kleine DDR. Immer mit Schallplatten und Manuskriptseiten in der Tasche, um über Musik zu sprechen, aufzuklären und Songs vorzuspielen. Musik, die so manchem damals mehr als unverständlich und anstößig erschien, von Schostakowitsch über Stockhausen bis hin zu den Beatles und Pink Floyd. Es machte ihm nichts aus, mit der gleichen Besessenheit und mit hohem Sachverstand über Bach oder Bartok zu sprechen, mit der er am Tag später vor seinen Zuhörern die Musik eines Louis Armstrong lebendig werden ließ. Er war ein Wissender auf allen Gebieten der Musik, ein Wegbereiter für das, was er als richtig und notwendig erkannte und er hatte Mut, diesen holprigen Weg mit all seinen Hürden und Hindernissen der DDR zu gehen. Meist trug der Mann mit dem runden Kinnbärtchen ein dezent kariertes Jackett und dazu eine Fliege. So kannte ihn die Dresdner Musikwelt, wenn er zum Beispiel mit Günter Hörig auf der Bühne stand, und so kannten ihn auch all die anderen im Lande, wenn er irgendwo als Referent der URANIA oder in eigener Sache, seine Überzeugungen formulierte und sein Wissen weitergab. Eine Trennung von E- und U-Musik existierte für ihn nicht, wohl aber die ihm eigene Überzeugung, von guter und schlechter sowie die, von begeisternder und lapidarer Musizierweise. Damit sprach er auch Jugendlichen jener Tage aus dem Herzen und begeisterte sie, die Sinne für alles Neue weit zu öffnen, sich einzulassen. Ich höre noch seine Worte und die Feststellung, dass die „Bilder einer Ausstellung“ in der Version von Emerson, Lake & Palmer eine ernst zu nehmende zeitgenössische Interpretation des Werkes von Modest Mussorgski darstellen. Dafür oder auch für seine ausführlichen Gespräche über „Thick As A Brick“ von Jethro Tull, sowie den Text von Ian Anderson, liebten wir ihn. Durch ihn verstand ich sehr früh, dass die Spencer Davis Group keine Beat-Kapelle mit dem Sound von „Keep On Running“ sei, sondern eine der besten weißen Blues-Bands, mit einem begnadeten jungen Sänger, überhaupt. Er ist verantwortlich dafür, dass es in meiner Plattensammlung ein spezielles Fach für Orgelmusik gibt. Ihm habe ich zu verdanken, mich intensiv, und gern auch in schriftlicher Form, mit Rockmusik auseinander zu setzen und hörend Neues zu entdecken. Gottfried verstand es, die deutsche Sprache in Wort und Schrift sowie in ihrer ganzen Breite, Vielfalt und Schönheit zu nutzen, um seine Anliegen zu formulieren. Viele Dresdner hatten ein Abonnement einer Sachsenzeitung nur deshalb, um seine Beiträge lesen zu können. Mit guten Beziehungen konnte man beim Buchhandel auch seine Bücher kaufen. Das durchaus umstrittene erste Beatles-Buch der DDR ebenso, wie das über den Dresdner Kreuzchor oder Peter Schreier. Was er tat, vollbrachte Gottfried mit Leidenschaft, Seele und einer Ausstrahlung, die Erwachsene und Jugendliche, Profis und Laien gleichermaßen begeisterte. Mutig betrat er neue Wege, wenn es um die Popularisierung von Jazz ging oder wenn er mit Begeisterung über Beat- und Rockmusik sprach. Das brachte ihm viel Zuneigung und Bewunderung ein, aber leider auch die Missgunst mancher Spießer und Verantwortlichen, die in ihm einen Unbequemen sehen mussten und es ihn spüren ließen. Diese Oberflächlichkeit und dumme Ignoranz machte ihm zuweilen auch Angst. Dann zog er sich in die vier Wände am Zweiten Steinweg 1 in Dresden zurück, wo heute eine kleine Gedenktafel an ihn erinnert. Ich lernte Gottfried Ende der 1960er durch jenen Vortrag über die Beatles kennen und kam auf diese Weise mit ihm ins Gespräch. Wir schrieben uns (ganz profan) Briefe, wir telefonierten und wir trafen uns bei Veranstaltungen. Irgendwann lud er mich dann ein, sein Gast zu sein. Es entstand beinahe so etwas wie Freundschaft zwischen einem jungendlichen Neugierigen und dem weisen gestandenen Musikwissenschaftler, die bis in die späten 1980er hielt. Dennoch sah ich stets zu ihm auf, hatte einen gewaltigen Respekt vor seiner Leistung. Diese enge Bindung gehört ganz sicher zu meinen prägenden Erfahrungen, was den Umgang mit jeglicher Art von Musik betrifft. Was ich durch Gottfried lernen und erfahren durfte, bestimmt meinem Umgang mit Musik bis heute und ich wünschte, dass ich es ihm zu seinen Lebzeiten noch hätte sagen können. Gottfried Schmiedel war es auch, der mir ein kleines, fast unscheinbares, Büchlein schenkte, auf dessen popiger Frontseite „AWopBopaLooBopALopBamBoom“ geschrieben stand. Dieses Büchlein von Nick Cohn war das erste Buch, das ich jemals, von einem Zeitzeugen und Kenner der englischen Pop-Szene geschrieben, las. Deshalb hat es mich bis heute auch nicht mehr los gelassen. Ein Blick in die Zeilen zeigt mir immer wieder neu, wie es damals wirklich war und lässt mich die Papierberge bunter Musikmagazine von einst und heute leicht vergessen. Niemals wieder sind die Anfangsjahre der Pop- und Rock-Kultur so schonungslos ehrlich und, entgegen den damals vorherrschenden Meinungen, kritisch beschrieben worden. Wenn es überhaupt eine geben sollte, dann sind diese 200 Seiten Rockhistorie von Nick Cohn die „Bibel der Fans“, die ich als solche akzeptieren könnte. und die hat mir Gottfried bei meinem Besuch einfach so geschenkt. Doch Dank wollte er nicht hören, aber er freute sich, wenn man lernen und verstehen wollte sowie mit offenen Sinnen, nicht nur durch die Musikwelt, lief. Völlig überraschend ging dieses rastlose Leben für die Musik am 1. November 1987 zu Ende, ohne dass ich ihm je hätte sagen können, dass ich ihn, bei allem Respekt, als Freund verstand. Ich denke, er hat es auch so gewusst. Sein 100. Geburtstag vor zwei Jahren ging inmitten einer Pandemie lautlos über eine unsichtbare Bühne. Am heutigen 24. August 2022 wäre Gottfried Schmiedel 102 Jahre alt und ganz sicher hätte er auch heute wieder Musik im Kopf, eine Fliege um den Hals und dieses stille wissende Lächeln im Gesicht. DANKE Gottfried!