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“So viele Wege” - die Folkländer sind wieder da! 23.10.2021 Wer glaubt eigentlich noch an Wunder? Ich jedenfalls nicht und doch dreht sich seit drei Wochen eine nagelneue CD der Folkländer in meinem Abspielkasten. Dieses silberne Wunder heißt „So viele Wege“ und im Nachsatz „Vol. 1“. Soll heißen, da wird noch eine zweite CD folgen. Die erste dreht sich bei mir ungewöhnlich oft, denn den guten alten Folkländern ist ein pfiffiges Klangsahneschnittchen gelungen. Zu diesem Fund bin ich durch Zufall, auf der Suche nach Konzertangeboten, gelangt. Nun düse ich auf der Betonpiste nach Naunhof, zu einem alten Kranwerk. Hier wollen die legendären Folkländer in ihrer Original-Besetzung live aufspielen. Das Ereignis möchte ich mir unter gar keinen Umständen entgehen lassen, ehe mein Konzertjahr schon vorzeitig endet. Als ich an Leipzig vorbei fahre, die robuste Kuppel vom Völkerschlachtdenkmal ahnend, hinter der sich der Südfriedhof verbirgt, schicke ich einen stillen Gruß hinüber zu CÄSAR, dem einstigen Weggefährten wilder Tage. Heute, vor genau dreizehn Jahren, musste er für immer gehen. Scheiße, wie die Zeit rennt, mir davon rennt! In den 1980ern waren die Folkländer, neben Wacholder, Brummtopf, Bettelsack oder Liedehrlich, die Protagonisten der Szene, die, zwischen Selbstzensur und frechen Neuvertonungen, munter und frisch für’s Folk musizierten und eine große sowie treue Anhängerschar hinter sich wussten. Im Herbst 1976 organisierten die Folkländer in Leipzig die erste Folk-Werkstatt und lösten damit quasi eine Folk-Welle aus, die frech und bissig bestehende Möglichkeiten austestete und nebenbei dem deutschen Volkslied zu neuer Geltung verhalf. Damals war ich einer, der dieses Geschehen miterlebte, Konzerte besuchte und auch organisierte. Duo Sonnenschirm, alias Jürgen B. Wolff und Dieter Beckert, erlebte ich live in unserem Klub und später, nach der Wende, noch zwei weitere Mal ( HIER ). Ich habe also quasi die „Pflicht“, in Naunhof zu schauen, wie sich das nächste Kapitel des Wolff-Rudels live anfühlt. Auf dieses Ereignis freue ich mich seit Tagen. Wohl deshalb fahre ich viel zu früh los und komme auch viel zu früh am Kranwerk an. Zu meinem Erstaunen kann ich ein bestelltes Ticket in der Holzbude vor dem Eingang schon kaufen und darf, viel zu früh, auch schon eintreten. In Unkenntnis der Örtlichkeit öffne ich zunächst die Tür zur Künstlergarderobe und finde erst dann den Einlass zur alten Kranhalle. Ich bin erstaunt und hingerissen. Was für ein liebevoll gestaltetes Kleinod! Als (vorerst) einziger Gast nutze ich die Gelegenheit, jeden Winkel zu entdecken, ehe ich einen Platz in der zweiten Reihe finde. Eine gute Wahl, wie sich später herausstellen wird, denn meine Kamera und ich haben freies Blickfeld auf das Geschehen und die Akteure. Nach einer Spielfilmlänge (ohne Werbepausen) ist es endlich soweit. Die Herren Wolff, Wagenbreth und Gefolge betreten die Bühne. Sie sind, wie ihr Publikum auch, ein wenig in die Jahre gekommen, doch als die ersten balladesken Töne von „Gott schütze den, der gepflanzt“ die alte Werkhalle füllen und J.B. Wolff seine Konzertina quetscht, sind all die Jahre zur Nichtigkeit geschrumpft. Mir wächst ’ne Gänsehaut und der „Leitwolff“ grinst uns von oben zu. In diesem Augenblick weiß ich, heute und hier am rechten Fleck zu sein und beinahe alles richtig gemacht zu haben. Nach dieser emotionalen Einstimmung schlagen die Barden mit der „Ballade von der Unzulänglichkeit“ aus der „Dreigroschenoper“ erbarmungslos zu: „Der Mensch lebt durch den Kopf, der Kopf reicht ihm nicht aus, versuch’ es nur; von deinem Kopf lebt höchstens eine Laus.“ Manchem müsste man diese und die folgenden Zeilen schlicht in die Birne hämmern, denke ich, während die Melodie mir das Herz erwärmt. Ich grinse noch in mich hinein, als „Das Nest“ angekündigt wird. Diese Weise vom Nest ist heute Abend die erste vom neuen Album „So viele Wege“, dessen Text, so J.B. Wolff, ein gebürtiger renitenter Lästerer namens Friedrich von Sallet schrieb und nun zu neuen Ehren gelangt: „Kein Weg so krumm und voll Gestein, der nicht zur Schänke lenke und kommt man fröhlich nur hinein, ist’s schön an jeder Schänke.“ Ich mag nicht nur solche Zeilen, sondern auch die schöne Melodie, die mir schon beim Hören der CD lieblich ins Ohr glitt und mich zu wippen lockte. Das schaffen die Musiker auch live und die Violine (Ulrike Triebel), mir direkt gegenüber, fiedelt ausgelassen dazu. Ein echter Gassenhauer und da es gerade so schön ist, schieben die Folkländer gleich noch den „Kanonensong (ade, nun muss ich wandern)“, der auch auf der neuen CD zu finden ist, hinterher: „Willst du mich ein klein Weil’ lieben, heiraten aber nicht, so bitt ich dich, Herzallerliebster, verführe mich nur nicht.“ Im Hintergrund flüstert eine klagende Tin Wistle von Gabi Lattke gar liebliche Töne dazu. Noch Fragen, meine Damen? Mein Lieblingslied auf der neuen CD aber ist eins über die „bilapidaren Beziehungen“, die wir während Corona irgendwie alle neu entdecken mussten, spricht J.B. Wolff. In dieses „Du und ich“ hab’ ich mich gleich beim ersten Hören verliebt, weil man dabei so schön über sich selbst lachen kann und auch hier im Kranwerk bleiben die Gesten auf der Bühne und die Lacher im Saal natürlich nicht aus. Ich könnte mich wegschmeißen und bin doch immer den Bruchteil einer Sekunde zu spät mit meiner Knipse. So schön und frech können, glaube ich, nur Volks- und Folk-Lieder sein. Die schlichen schon zu anderen Zeiten leise, und mit grünen Elefanten im Gepäck, an der Zensur vorbei und dem Volk gefiehl’s. Zwei Cover-Versionen gefallen mir an diesem Abend besonders gut. Zum einen ist es John Denver’s „Leaving On A Jet- Plane“ als „Von allen guten Fliegern verlassen“, gemeint als „Hommage“ an das Wachsen des BER. Und ein Liedchen in waschechtem Vogtland-Dialekt, denn der Chef-Folkländer ist bekanntlich „in de Berch“ geboren. Er singt uns Dylan’s „It’s All Over Now, Baby Blue“ als „Neirch’nd war’s scheener als wie hier“ (oder so??). Da sitze ich auf meinem Holzstuhl, meine Knie werden weich und es kullert ein Tränchen über mein Gesicht. Dass letztere Version eine Weltpremiere darstellt, sei nur am Rande erwähnt und auch, dass wir eine emotionale Melodie von Mikis Theodorakis (sogar im 9/8- Takt) erleben dürfen. Einfach Klasse! Mit knappen drei Minuten filigranen Augenzwinkern wird die neue CD eröffnet und das „High-Dee-Hi“ darf natürlich im Live-Programm nicht fehlen. Es gibt so viele Pop-Songs für „Rosamunde“, für „Angie“ und „Lady Jane“, für „Erna (die kommt)“ und auch ein „Wiegenlied für Susann“; auf eins für „Heidrun“ aber mussten wir bisher verzichten. Diese Lücke füllt nun, im typischen Gewand der Volkländer, das einzigartige „High-Dee-Hi (No Woman No Cry)“. Mein Favorit Nummer zwei auf der neuen CD ist „Lost Paradise oder Lob der Artenvielfalt“ bzw. wie ich meine, das „Ding mit der Hummel“. Zauberhaft kann ein „gesungenes Hörspiel“ (J.B. Wolff) sein und lustig hört sich das Hackbrett von Gabi Lattke an. Als die Folkländer vor der Pause (zum Maskentausch) noch „Was nicht geht“ anstimmen, haben wir schon einige der Lieder vom neuen Album „So viele Wege“ live gehört. Zum Auftakt danach erfahren wir etwas vom „endlich wieder mal Auswandern“, eine Aufforderung, die als „Wanderlust“ ebenfalls auf der CD zu finden ist. Ohne Ansage stimmen die Musikanten eine Weise an, die mir irgendwie bekannt vorkommt, ich aber erst mit dem Refrain einordnen kann: „Oh Himmel strahlender Azur! Enormer Wind die Segle bläh“, heißt es in Brecht’s „Seeräuberballade“ mit dem Text von Paul Dessau aus „Mutter Courage“. Auch so kann ein Folk- Song daher kommen, zumal der Klang einer Okarina das Ganze noch etwas versüdländlicht und hier mit dem Zitat von „Oh, du lieber Austin“ endet. Einfach hinreißend und einige singen beim Refrain auch mit. Inzwischen bin ich völlig in diesen Live-Liederzyklus eingetaucht. Vor mir musizieren Ulrike Triebel mit der Violine, bisweilen nimmt sie auch eine Säge zur Hand, sowie Heidi Eichenberg mit dem Akkordeon. Ich hätte sie fragen sollen, ob ihr Vater zufällig Walter mit Vornamen hieß und die Mutter Helga. Das würde eine Menge erklären. Auf der anderen Seite zupft oder streicht Uli Doberenz den Kontrabass in hingebungsvoller Manier und Gabi Lattke neben ihm pfeift, brummt, hackt und singt zudem aus voller Kehle. In der Mitte agieren die beiden Front-Folkländer, Manfred „Manne“ Wagenbreth und Jürgen B. Wolff, nebeneinander mit Gitarre, Mandoline oder einer Bouzouki, und wechseln sich beim Singen und Plaudern ab. Das verleiht diesem Abend manchmal eine ganz besondere Stimmung und die typische Würze. Jedes Wort sauge ich auf und vergesse es zumeist sofort wieder. Dafür bleiben diese Melodien kleben und die charismatische Stimme von Jürgen B. Wolff frisst sich in meine Gehörgänge. Ich liebe diese Mixtur, denn sie ist einmalig, unwiderstehlich und prägt den Sound des Folk-Orchesters. Dessen Lieder strahlen eine seltene Magie aus, noch dazu, wenn sie live und mit solcher Spielfreude intoniert werden. Umso erstaunlicher, dass nach nunmehr fünfundvierzig Jahren noch einmal ein derart rundes, herzerfrischendes, freches, ideenreiches und bissig-schönes Album mit herrlichen Liedern erschienen ist. Davon träumen andere (gleichaltrige) Musikanten wahrscheinlich nur noch in Anbetracht ihrer, ach so wichtigen, Jubiläumsfeierlichkeiten, kommt mir nebenbei in den Sinn. Einen weiteren Pop-Song adaptieren die Folkländer mit „Games People Play“ von Joe South, den sich auch andere Liedersinger aussuchten. Das Besondere dieses Mal ist eine Sängerin aus dem Publikum, die mit ihrer Stimme einen zusätzlichen Akzent setzt. Das folgende „Weint mit mir, ihr nächtlich stillen Haine“ ist ebenfalls auf der aktuellen Scheibe zu finden und verdient den Zusatz „ziemlich gruselig“ ist es auf einem Wiener Friedhof mit vielen Gläsern Heuriger im Kopf. Zu entdecken nach dem Kauf einer CD “So viele Wege” ( HIER ) oder wie ich, unter vielen Gästen im Konzert, wenn sie es denn wieder tun sollten. Unpassend zu diesen Gedanken spielen sie uns „In 50 Jahren ist alles vorbei“ und wir erfahren, ganz nebenbei, wer uns an diesem Abend, von links nach rechts (Ulrike, Heidi, Jürgen, Manne, Gabi & Uli) so wundervoll und kurzweilig unterhalten hat. „So viele Wege“, und doch nicht der Titelsong, soll den Folkländer-Abend beenden. Aufstehen, Stühle rücken auf der Bühne und Verbeugung zu brausendem Applaus sind das untrügliche Zeichen, dass jetzt eine Zugabe folgen muss. Dass sie dafür ihre eigene Version vom Paradies der Seeleute, mit Rum, Freibier, schönem Wetter und netten Mädels, auswählen, ist für mich ein glücklicher Zufall, denn ich mag solche alten Weisen sehr. Diesmal klingt „Fiddler’s Green“ wieder etwas anders und auch der deutsche Text trifft bei mir auf Gegenliebe. Der Moment geht mir nah und so sitze ich in meinem Stuhl und genieße ihn andächtig (und filmend). Nein, hier ist noch nicht Schluss! Zu groß ist die Begeisterung und so einmalig dieser Abend. Denen auf der Bühne bleibt nur, noch einmal hinauf zu steigen und dann wird’s noch beschwingt mit einem Lied, das auf ihrer ersten und einzigen Amiga-LP „Wenn man fragt, wer hat’s getan“ (1982) zu finden ist. „Wir drei wir gehn heut auf die Walze“ klingt es fröhlich durch den Saal. In die Stuhlreihen kommt Bewegung und ich sehe strahlende Gesichter. Dieses Konzert im alten Kranwerk ist so berührend und schön, dass ich lange davon zehren werde. Doch noch eine letzte Melodie gibt es zum Abschied, die wahrscheinlich jeder kennt. Auch ich stimme ein in „Wahre Freundschaft soll nie wanken“ und ringe wieder einmal mit dem berühmten dicken Kloß im Hals. So viele Erinnerungen und so viel Emotionen, da können sich noch so viele Lebensjahre dagegen stemmen, meine Augen sind feucht und der Kloß hat diesmal gewonnen. Danke für genau dieses Lied! Die Reihen lichten sich schnell. Langsam gewinne ich meine Fassung wieder. Dann lasse ich ein Poster sowie das Booklet signieren und erfahre in Gesprächen, dass „So viele Wege“ mit dem Zusatz „Vol. 2“ bereits im Kasten ist und vielleicht im kommenden Frühling fertig produziert werden könnte. Und dann würde es auch wieder Konzerte geben, hoffe ich, und verlasse die alte Lokäsch’n, um der nächtlichen Piste in Richtung Harz zu folgen. Das war mein letztes Konzert in diesem Jahr und, falls es Gesundheit und die Umstände erlauben, wird nach der Pandemie vor der neuen Konzertsaison sein. Dann sehen wir uns hoffentlich wieder. Bis dahin passt auf Euch. Gruß vom Rock-Rentner!