Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Treffen der Weggefährten (mit Corona) 11.07.2020 “Es geht ein Gespenst um in Europa, …” Im September 2006 besuchte ich nach langer Zeit wieder ein Konzert von LIFT. In der Dorfkirche von Lomnitz fand ich eine Band vor, die nichts mehr mit meinen Erinnerungen gemeinsam hatte. Hinter dem Tresen vom „Souvenirladen“ standen Tamara und Achim. Beim Konzert zum Gedenken an Klaus Renft, am 21. November des gleichen Jahres, traf ich sie in dieser Funktion wieder. Beide luden mich zum Weihnachtskonzert von CÄSAR & den Spielern, einen Monat später im Anker, ein. Seitdem gehöre ich zu den „Weggefährten“, dem Fanclub von CÄSAR. Den Musiker CÄSAR sah ich live allerdings schon als Gitarrist der Klaus Renft Combo Ende der 1960er Jahre. Ich habe ihn bewundert, als er allein auf der Bühne die „Lady Jane“ sang, während die anderen noch den Tresen bewachten. Es vergingen fünf Jahrzehnte, in denen viel geschah, bis eben zum Gedenkkonzert. Doch mein einschneidendes Erlebnis war der Tod von CÄSAR am 23. Oktober 2008. Beim Treffen im Sommer weilte er ein letztes Mal unter uns. Es wurde sein leiser Abschied aus unserer Gemeinschaft der „Weggefährten“. Doch die fröhlichen Zusammenkünfte im Entenfang von Torgau blieben eine feste Größe im Terminkalender. Nur die einst so große Runde schmolz zu einem harten, innigen und festen Kern, der die Geschichte weiter schreibt. Ohne CÄSAR, aber mit den Erinnerungen an ihn. Eigentlich, so dachte ich 2019, das Jahr unseres 20jährigen Bestehens, geben wir nun die im Kalender fest verankerten Rituale auf und lassen es gelegentlich lockerer angehen. Eigentlich, so dachte ich, ist dieses verrückte Coronajahr überhaupt nicht dafür geeignet, sich in so einer Runde zu treffen. Fröhlich plaudernd und singend, mit Mundschutz und auf Abstand, wäre nicht mein Ding. Abgehakt! Doch man sollte den Tag nicht schon vor dem Abend abhaken. Zwei haben miteinander telefoniert und plötzlich stand ein brandneuer Termin im Raum. Ein „Treffen von Fans der gepflegten Musik“, ein Pseudonym für etwas undefinierbares, wie sich vor Ort herausstellen sollte. Der Himmel und die Sonne meinten es gut mit mir und so fand ich mich an diesem Tag nachmittags doch im Entenfang wieder. Hier ist alles so, wie sonst auch. Einige Zelte, einige Autos und ein paar Menschen unter Bäumen, auf der Wiese und am Wege. Alle mit Abstand und Anstand unter freiem Himmel. Der Entenfang bietet so viel Platz, dass sogar eine Schafherde beschäftigt werden kann. Wie immer. Unter vier großen Linden treffe ich auf den glorreichen harten Kern der „Weggefährten“. Nur diesmal auf der anderen Seite des Weges, um Abstand zu halten. Damit das ja auch niemand vergisst, wurde vorsorglich eine weiß-rote Trennlinie gespannt, die „Demarkationslinie“, die besser nicht überschritten werden sollte. Falls doch, steht auf der anderen, der westlich gelegenen Seite des Weges, ein kleiner Holzverschlag zum Erwerb von Bratwurst, Grillsteak und „Börger“, als Grund, diese Linie zu unterwandern, indem sie angehoben wird. Sofort fühle ich mich hier wohl, schon der Erinnerungen wegen, und das mit dem Abstand und der Sicherheit gelingt mir auch (meistens). Statt an einer langen Tafel, wird der Kaffee diesmal an drei kleineren Tischen getrunken. Es werden Neuigkeiten ausgetauscht und wir erzählen uns “Kleine Waldgeschichten” ( HIER) . Es ist schön, nach so viel Abstinenz wieder in wohl bekannte Gesichter und vor Freude glänzende Augen zu schauen sowie zu spüren, dass alle ähnlich empfinden. Das Gefühl, im Ausnahmezustand zu leben, ist dennoch allgegenwärtig und natürlich das Gesprächsthema. Ich erlebe Momente, die fast einem Balanceakt gleichen, wie ein Gefühl, zwischen Hemmungen und Hingabe zu schweben und dabei beinahe verklemmt zu wirken, weil ich nicht weiß, ob es dem anderen ebenso ergeht. Manchmal sitze ich einfach nur da und beobachte das Geschehen hier und das in der „Ferne“ hinter diesem rot-weißen Band. Es erscheint alles irgendwie unwirklich, obgleich es real ist. Mit einer zweiten Tasse Kaffee versuche ich, innerlich Abstand zu gewinnen und wieder Ruhe zu finden. Es wird mir an diesem Abend nicht gelingen, am Tag darauf auch nicht und das gemeinsame Singen beliebter Melodien aus der Schatztruhe des Ostens will, kommt auch irgendwie nicht in die Gänge. Die auf der westlichen Seite der rot-weißen Linie haben ihre Zelte ebenfalls auf einer Wiese errichtet. Die Abstände sind so groß, dass man dazwischen Federball spielen kann. Man sitzt familiär an Tischen oder flaniert paarweise durch Wald und Flur. Manche sitzen, so wie wir, in kleinen Gruppen an langen Tischen und lauschen „gepflegter Musik“ aus der Konserve. Hätten wir zufällig nicht Fräulein Corona unter uns, ich würde dies hier für ein verhindertes Hippiening aus längst vergangenen Zeiten halten, so bunt sind deren Haare und Kleidung gestylt. Alle sind friedlich, sie strotzen vor Harmonie und üben sich im Entschleunigen ihres Lebens. Vielleicht kann man dies als positive Seite des Knockdowns einer Gesellschaft erkennen und auch so handeln, denke ich. Allein mir fehlt der Glaube. Dieses System des Geldes und der Macht wird da nicht mitspielen wollen. Dividenden zu verstaatlichen und Gewinne zu sozialisieren, wäre glattweg das Ende des privatwirtschaftlichen Egoismus! Keiner der Vernetzten und Lobbyisten will das. Es hat doch auch bisher funktioniert und die Massen lassen sich vielleicht auch weiter funktionieren. Alles andere würde mich wundern. Die Sonne schickt ihre abendlichen Strahlengrüße durch die Bäume auf die Wiese. Hier werden, hinter den Autos und mit respektvollem Abstand, einige Zelte für die Nacht aufgebaut. Eine Katze umgarnt argwöhnisch die neu errichteten Behausungen, um sie zu markieren. Zu spät! Zufrieden schleicht sich die Katze ihrer Wege und ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Über uns gleitet ein Sportflieger hinweg. Was wird der denken, angesichts dessen, was unter ihm geschieht? Ich genieße den Anschein von „open air“, das Gefühl, sieben Jahrzehnte auf siebzehn Jahre abschmelzen zu können. Das ist geil und allemal besser, als gutbürgerlich im TV die alten Maiergesichter anzuglotzen – siehe oben. In all den Jahren habe ich mich niemals gefragt, was an dieser kleinen Schar liebevoller Menschen so besonders, so anders, so einmalig ist, dass man sich mindestens ein Mal im Jahr sehen muss. Ist es die Musik von CÄSAR, sind es die Erinnerungen an ihn und viele andere? Sind deren Namen „nur“ eine Klammer für Gemeinsamkeiten, die wir paar Hanseln als wichtig und bewahrenswert empfinden? Sind wir einfach nur ein wenig „verrückt“ oder verkriechen wir uns für ein paar Stunden im Vergangenem? Die Antwort weiß, wie schon ein gewisser Robert Zimmermann richtig erkannte, nur der Wind. Der ist aber ausgerechnet heute nicht zu spüren und der Regen bleibt, entgegen aller Gewohnheit, diesmal auch aus. Dafür fährt die Zukunft, in Gestalt eines quicklebendigen Sechsjährigen, mit einem Fahrrad über die Wiesen oder zeichnet kleine Kunstwerke auf Papier. Dem kann und wird seine Mama später einiges von CÄSAR, uns Weggefährten, dieser Wiese und einem schönen Abend im Juni erzählen. Also doch Erinnerungen? Na klar doch! Wer sich nicht gern erinnert, der wird auch kein Fundament haben, auf der Zukunft sicher stehen kann. In diesem Augenblick erkenne ich auch meinen Antrieb wieder, während ich „träumte einen Apfeltraum in Moll“. Zwei Stunden vor Mitternacht fahre ich dem Sonnenuntergang, “tief im Westen”, entgegen, den Kometen Neowise nordöstlich im Rücken. Ich kann ihn nicht entdecken, mein Blick ist nach vorn gerichtet. Den Schicksalsboten aus dem Mittelalter lasse ich hinter mir. Heute Nacht und sowieso. Meine Hoffnung ist ein baldiges Ende dieser Scheiß-Pandemie: Coronaviren aller Länder, beseitigt euch!