Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Electra rockt am Tag der Einheit 03.10.2011 Seit dem Frühjahr wird auf der Autobahn 13 zwischen Ortrand und Thiendorf gebaut. In beiden Fahrtrichtungen nur eine Spur und am „Tag der deutschen Einheit“ wollen sie nach dem langen Wochenende alle nach Hause. Während ich im Stau vor der Baustelle stehe, kann ich am Himmel die Kraniche sehen, die Richtung Süden ziehen. Dorthin möchte ich sie ein kleines Stück begleiten, denn in Dresden steht an diesem Tag ELECTRA auf der Bühne am Goldenen Reiter und mir geht ein kleines Musikstück von Bernd Aust und Peter „Mampe“ Ludewig durch den Sinn: „Kraniche fliegen im Keil, so trotzen sie besser den Winden, so teilen sie besser die Kräfte weil, die starken bilden den vorderen Teil und die schwachen fliegen hinten.“ (1974) Auf der Bühne neben der Statue stehen sie aufgereiht, einige der gewählten Vertreter des Volkes, die, die eigentlich voran fliegen sollten. Sie sprechen viele schöne Worte die sagen, dass die deutsche Einheit nun vollzogen sei. Der kleine Sprachfehler, dass damit vordergründig nur die staatliche Einheit gemeint ist, lassen sie kommentarlos stehen, den spätestens beim Singen dieser Hymne, die bei vielen noch immer nach „über alles“ schmeckt, sollten sie bemerkt haben, dass nicht jede Kehle vor ihnen freudig mitsingt. Viele haben das Lohngefälle im Hinterkopf oder ihre fristlose Kündigung in den Zeiten der Wende. Auch einheitliche Hymne Fehlanzeige! Es gibt noch viel zu viele Köpfe und Massen von Leistungsempfängern, denen eine Kanzlerin des Volkes lieber wäre, als eine Handlangerin der Märkte. Nicht die Starken fliegen dem Keil voran, um im Bilde zu bleiben, sondern die freien Märkte in ihrer entfesselten Gier jagen die Schwachen in den Stürmen der Zeit vor sich her. Hätte ich die Kraniche nicht gesehen, wäre ich noch später am Reiter angekommen, wären mir solche Gedankenspiele an so einem Tag erspart geblieben. Die Wahrheit kann eben eine sehr individuelle Wahrnehmung haben und dennoch den Kern treffen. Als Bernd Aust die Bühne betritt und die ersten Flötentöne erklingen, ist meine Birne wieder klar und die paar Offiziellen sind, ohne von irgend jemanden weiter beachtet worden zu sein, von der Bühne verschwunden. Da schütteln mich schon längst die armenischen Rhythmen vom „Säbeltanz“ in der Version der Dresdener Rocker erst mal richtig durch. Genau deswegen und wegen einiger anderer alter „Volksweisen“ dieser Band bin ich hier. Wir bekommen von Gisbert Koreng die „Vier Milliarden in einem Boot“ zu hören und aus Stephan Trepte’s Zeit bei Reform das knackige Herbstlied „Wenn die Blätter fallen“. Da merkt man, wie’s den alten Schlawiner noch mal packt und wie herrlich frisch sein Gesang „wenn die Blätter fallen, hole ich mein Winterfell heraus“ - mit den anderen Instrumenten spielen kann, wenn sie miteinander explosive Zwiesprache halten. Nicht ganz so alt, nämlich aus dem 1989er Wendealbum „Der aufrechte Gang“ ist „Einmal Amerika“, das ebenso wie „Goldhamster“ auch im 21. Jahr danach noch immer verdammt aktuell ist und daraus machen die da oben auch keinen Hehl. Beide Songs bilden live den Rahmen für das „Bild“ aus der „Sixtinischen Madonna“ (1980). Stephan Trepte gibt noch immer den Rocker, wenn auch mit streng nach hinten gebunden weißen Haar, aber er ist auch der Sänger mit der großen Stimme und dem expressiven Ausdruck in ihr. Die Massen toben begeistert, wenn sich der Sänger mit dem Gitarristen ein Fingerduell auf den Gitarrensaiten liefert oder von ihm die erste Reihe der über 60-jährigen bei Electra vorgestellt wird. Noch immer ist denen auf der Bühne die Freude anzumerken und noch immer kommt der Spaß nicht zu kurz. Das alles zusammen, plus natürlich ihr großes instrumentales Können, machen die Band so unverwechselbar. Bei einem Urgestein wie ELECTRA fehlt auch nicht der Blick zu den musikalischen Wurzeln, der Blick zum Blues und das kokette Spiel mit der Flöte. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn Bernd Aust, wie Kratzfuß Ian Anderson, gemeinsam mit Andreas Leuschner die ersten Töne von „Bouree“ erklingen lässt. „Stand Up“ ist eines meiner absoluten Lieblingsalben und dieses kleine Flöten-Tanzstück, dem französischen Hof des 16. Jahrhunderts entlehnt, ein alter Volkstanz und Juwel der Rockhistorie gleichermaßen, von Meister Aust so unnachahmlich zelebriert, gehört schon seit Urzeiten zum Konzertprogramm. Momente später wird aus diesem Tänzchen mit „Locomotive Breat“ ein weiterer Klassiker zum Leben erweckt. Dieses Teil verstrahlt noch immer die gleiche Magie und ein Electra-Konzert ohne einen Tull-Klassiker wäre wie Dresden ohne den Goldenen Reiter, der wohl beinahe vom Sockel galoppiert wäre. In Erinnerung an den erst kürzlich verstorbenen Gary Moore spielt die Band „Still Got The Blues“ und wir erleben einen leidenschaftlichen Ecki Lipske mit seiner Gitarre und einen Gisbert Koreng, der mich bei diesem Song als Sänger über alle Maßen erstaunt. Der Sänger scheint sich den Song aus dem Herzen reißen zu wollen und Ecki läßt sein Instrument dazu singen, wimmern, weinen und schreien. Es ist einfach nur gigantisch schön, zu lauschen. An diesem Sonnentag ist es ein Augen- und Ohrenschmaus, den „Türkischen Marsch“ nach Motiven von Mozart aus dem 76er Album „Adaptionen“ zu erleben. Jede solistische Einlage wird von der Menschenmasse mit Begeisterung beantwortet und jeder kleine Gag lachend zur Kenntnis genommen. Auch diesmal hab’ ich mich direkt vor Wolfgang „Kuddel“ Riedel an die Kante gestellt, um dieses Solo eines Bassisten zu genießen, das in einem furiosen Spiel mit dem Bogen Gruß an Jimmy Page (Led Zep) und Eddie Phillips (Creation) auf den vier Saiten seinen fulminanten Höhepunkt findet. Schon vor mehr als 30 Jahren und heute immer noch. Ich liebe es! Wer zu Electra geht, der will auch „Mampe“ hören, weil der mit seiner hellen Stimme und seinen 70 Lenzen ein absoluter Glanzpunkt im Live-Programm ist. Es klingt auch nach so vielen Jahren wie ein Zauber, wenn er inbrünstig „Das kommt, weil deine Seele brennt“ anstimmt und jedes Mal wünsche ich mir, er möge auch den „Neuen Tag“ in Erinnerung an Niemen singen. Wetten, dass er’s noch kann!? „Mampe“ Ludewig gelingt grandios als „Narr durch töricht Unternehmen, viel tausend Tore zu beschämen“, womit wir beim „Grünen Esel“ und schon beinahe wieder bei den Kranichen angelangt wären aus der Mitte der 60er lässt der Kultsänger mit „Reach Out, I’ll Be There“ einen Klassiker der Four Tops erklingen und schlägt damit den Bogen zu jener Zeit, als ein paar Musikstudenten in Dresden aus der Tanzmusikklasse von Günter Hörig auf die Idee kamen, eine Combo zu gründen, um Musik zu machen. Als „Mampe“ später solistisch und abendfüllend „in spe“ unterwegs war, entstand auch die Einlage, die schon immer der Höhepunkt seines Auftritts ist. Diese gigantische Stimme und sein Gefühl als Drummer bringen jedes Auditorium zum Toben und so manchem zuckt bei „Nagila Hava“ der ganze Körper, auch ohne aus einer Migrantenfamilie zu stammen. Da reißt es einen einfach mit, wenn Aust, Lipske und Riedel hintereinander über die Bühne marschieren. Die Feiertags-Mugge am Goldenen Reiter erlebt noch das Cocker-Cover „Unchain My Heart“ und das runde Tausend vor der Bühne hören sich die sakralen Klänge vom „Dom“ an oder singen ihn voller Inbrunst und laut mit. Den Text kennt beinahe jeder und beinahe jeder singt ihn auch aus voller Überzeugung, ebenso wie das Electra Volkslied „Nie zuvor“. Noch so ein alter Rock’n’Roll Klassiker („Good Golly Miss Molly“) und die Fete ist beendet. Aber Electra hat Trepte und der wiederum mit „Seh’ in die Kerzen“ eines der schönsten Rock-Lieder, die ich in deutscher Sprache kenne. Bei dieser Melodie auf die Worte von Joachim Krause zu achten, macht Vergnügen und gibt Kraft gleichermaßen: „Seh in die Kerzen, zähle die Jahre, frage nach Stunden, die wichtig mir waren, weit ziehen Gesichter vorbei, vergaß ihre Namen, ihr Lachen blieb und ihr Wort und es war gut, gut, gut, dass sie kamen.“ Diese Worte passen viel eher zu meiner Vorstellung von so einem Festtag, weil sie auch näher an meinen gelebten erlebten Jahren dran sind, als „Einigkeit und Recht und Freiheit“ für die Märkte und diejenigen, die sie zu dirigieren versuchen. Wenn einem dieser eisige Wind in den Nacken bläst, wird dir kalt, der Nacken steif und man zieht unwillkürlich den Kopf ein. Das ist der Grund, weshalb ich Musik, wie die von ELECTRA brauche. Sie trifft meine Seele, wärmt mein Herz und trägt mich in den kommenden Herbst, in dem die Kraniche gen Süden ziehen. Die Starken voran und in deren Schutz die Schwächeren, so wie es von der Natur eigentlich gewollt ist. Vielleicht könnten irgendwann unbekannte Piraten den ganzen Laden entern und ein klein wenig an der Rangordnung feilen. Überraschen würde mich das nicht, im Gegenteil, es wäre einer meiner innigsten Wünsche!