Collegium Musicum live in der Lucerna, Prag
15.02.2011
Das Slowakische COLLEGIUM MUSICUM und die Band FERMATA versuchen seit geraumer Zeit vergeblich, Konzerte auch in
Deutschland geben zu können. Zumindest in jenem Teil des ehemals zweigeteilten Landes, in dem sie in den 70er und 80er
Jahren eine große Fangemeinde hinter sich wussten. Doch kein Veranstalter scheint heute Interesse zu haben oder das
Geld dafür aufbringen zu wollen. Das ist einerseits verständlich, andererseits aber sehr schade, denn beide Bands spielen
immer noch auf allerhöchsten Niveau. Wenn mir also das Warten auf das COLLEGIUM MUSICUM aus Bratislava inzwischen
zu lange dauert, muss ich eben zu einem Konzert in das Nachbarland fahren. Nach einem kurzen Telefonat mit Bratislava,
der Heimatstadt des Bassisten der beiden Bands, wusste ich, dass ich in Prag willkommen sein würde.
Die Zeiger der Uhr hatten an diesem Dienstag die Mittagsstunde längst hinter sich gelassen, als wir den Autobahnbogen der
A13 / A17 / E55 um Dresden herum in Richtung Prag befuhren. Eine Vignette musste gekauft und eine Übernachtung
gefunden werden, ehe in der Abenddämmerung die surrenden Räder ihre Spuren auf Prager Straßen hinterlassen konnten.
Die Musik-Bar LUCERNA befindet sich mitten in der City von Prag. Da muss man erst mal hinkommen und dann auch noch
einen Parkplatz finden. So richtig wohl war mir bei all solchen Gedanken freilich nicht und im Land der Tschechen war ich
auch schon eine kleine Ewigkeit nicht mehr. Dank zweier Freunde, die ebenso gespannt dem Ereignis entgegen fieberten,
wurden solcherlei Gedanken letztlich klein und unwichtig.
Keine 300 Meter entfernt von der LUCERNA war die Reise am Ende, ein Parkplatz gefunden und Euronen in Kronen
gewechselt. Die Vodickova ist eine enge Seitenstraße, die nur von Straßenbahnen befahren wird und dort war die
Leuchtreklame schon von weitem zu sehen. Mitten in das alte Gebäude führt eine Fußgänger-Passage mit vielen kleinen
Läden, Restaurants, Bars, einem Kino und sogar einem Theater. Menschen hasten durch die Gänge, andere wiederum
schreiten in Abendkleidern ganz offensichtlich zu einem festlichen Event in Richtung Theatereingang. Irgendwo am Rande
der Gänge, ganz unscheinbar in einer Nische versteckt, befindet sich die Eingangstür zur LUCERNA MUSIC BAR.
Treppenstufen führen eine Etage nach unten, wie in die unterirdisch verwinkelten Räume und Nischen einer
verschwundenen Welt. Eine weitere Etage darunter dann die eigentliche Bar unter einem hohen Gewölbe mit einem großen
runden Podest in den Raum hinein. Nach dem Konzert würde ich erstaunt feststellen, dass eine weitere Etage darunter, wie
in einem Luftschutzkeller, die Garderoben für die Künstler versteckt sind. Von diesem verschlungenen Gewirr der Treppen,
Nischen, Buchten, Ränge und Vergnügungsmöglichkeiten geht eine ganze eigene Faszination und Eindringlichkeit aus, die
man erst spürt, wenn man sich darin befindet und die mich noch Stunden danach spürbar fesselte. Allein dies zu sehen und
zu erleben, wäre den ganzen Aufwand wert gewesen.
Mein Platz an der Kante des Podestes, neben Pressevertretern und Fotografen, ist schnell gefunden und einige wenige
Begrüßungsworte mit FEDOR FRESO, dem Bassisten der Band, gewechselt. Weitere Gespräche mit Konzertbesuchern
kommen leider nicht zustande. Meine tschechischen Sprachkenntnisse tendieren gen Null, deutsch kann niemand der
Umstehenden und englisch wird mehrheitlich auch nicht gesprochen. Das ist schade und ich bleibe auf meinem
Beobachtungsposten den visuellen Eindrücken und meinen Emotionen überlassen. Kurz vor 21.°° Uhr scheint das
Fassungsvermögen des Gewölbes erreicht, in dem eine mir völlig unbekannte Band jetzt das musikalische Zepter übernimmt
und mit einer straffen Mischung aus Jazz-Rock-Klängen, Wave- und Punk-Anleihen die vielleicht ca. 400 Besucher auf das
eigentliche Ereignis einstimmt.
Für mich ist es ein bewegender Moment, als ich nach mehr als 35 Jahren die gebeugte Gestalt von MARIAN VARGA auf die
Bühne kommen sehe und mit ihm seine alten Mitstreiter, Freunde und Musikerkollegen FEDOR FRESO (bass) und
FRANTISEK GRIGLAK (guitars). Der Vierte im Bunde ist der junge Schlagzeuger MARTIN VALIHORA. In diesem Augenblick
sind drei Jahrzehnte des Wartens wie pulverisiert und ein Traum hat sich erfüllt.
MARIAN VARGA nimmt hinter seiner Hammond-Orgel Platz, Drums und Bass drücken die ersten wuchtigen Schläge in den
Raum und dann beginnen die Finger eines Magiers über die Tasten seines Instruments zu tanzen, ihnen die ersten Akkorde
von „Mikrokosmos“ zu entlocken. Von jetzt an erkenne ich jeden Ton und jede Nuance wieder, tauche ein in das Universum
zwischen „Konvergencie“ von 1971 und „Divergences von 1983. Wie aus meiner Erinnerung vor langer Zeit verschmilzt der
Mann mit seinen Tasten und Manualen, scheint in die Orgel kriechen zu wollen, während er sie mal wütende kratzende
Akkorde ausspucken und schnelle Läufe spinnen lässt. Manchmal nimmt die Gitarre im gegenüber die Ideen auf, versucht
zu weiter zu spielen, doch nicht immer gelingt das Vorhaben unter den übermächtigen Einwürfen des Orgelspiels. Das alles
geschieht auf einem oftmals stampfenden und treibenden Rhythmus-Geflecht, das der exzellente Bassist und der
stürmische Schlagzeuger gemeinsam flechten. Am Ende des Spiels steht ein Jubelschrei der Fans und die Freude der vier
Rocker.
Ähnlich angelegt ist „Ulica Plana Plastov Do Dazda“ ( etwa: Kunststoff-Regenmantel ) von der ersten Single aus dem Jahr
1970. Das Stück beginnt mit einem nahezu verträumten Orgel-Intro und steigert sich später immer weiter und führt die
Hörer auf diese Weise auf einem weiten Spannungsbogen zu einem emotionsgeladenen Höhepunkt. Dazwischen eingebaute
Tempi-Wechsel und Solo-Einlagen von FERO GRIGLAK an der Gitarre verstärken diesen Effekt noch zusätzlich. Die
Assoziation zum ins deutsche übersetzten Titel spielt dabei sicher eine eher nebensächliche Rolle.
Ganz anders das „Concerto In D“ von 1972, dessen Vorlage ein Original von Joseph Haydn ist. Diese Adaption brachte dem
COLLEGIUM MUSICUM den Ruf ein, eine Band zu sein, die sich vorwiegend an klassischen Werken orientieren und diese zu
Adaptionen verarbeiten würde. Dies ist allerdings nur ein Teil des Gesamtwerkes des COLLEGIUM MUSICUM. Dennoch ist es
beeindruckend, wie die vier Herren auch noch mehr als 30 Jahre danach, dieses klassische Stück und quasi ihre eigene
neue Variante davon live auf die Bühne bringen. Im Publikum gab es gestern nicht wenige, die auf ganz unterschiedliche
und sehr persönliche Weise sich als Dirigent und Mit-Musizierende im Luft-Gitarristen-Stil versuchen.
Den eigentlichen Höhepunkt des Konzerts stellte aber eine freie Bearbeitung von Themen aus dem Ballett „Scheherezade“
von Rimski-Korsakow dar. Diese mehr als 20-minütige Rock-Suite vom Doppel-Album „Konvergencie“ offenbart das
großartige Zusammenspiel aller Musiker und natürliche das große Verständnis des Keyboarders MARIAN VARGA für solche
Bearbeitungen. Es ist schlicht beeindruckend, wie selbstvergessen und in sich gekehrt dort einer die Hammond-Orgel spielt
und sich die anderen drei Instrumentalisten auf ganz unterschiedliche Weise in das Gesamtkonzept einfügen. Ich selbst
hatte öfter das Gefühl, manch Ideen könnten mehr ausgeweitet und noch freier bearbeitet sein. Dem gegenüber steht die
große Dichte musikalischer Einfälle, aus denen diese Suite gewoben wurde. Da sind natürlich auch zeitliche Grenzen
gesetzt. Dennoch haben, neben der Orgel, die anderen drei Instrumente immer noch genug Freiraum, um sich solistisch
präsentieren zu können. Vor allem beim Gitarristen, der schon damals als der „McLaughlin des Ostens“ galt, und beim
Bassisten FEDOR FRESO kommt man in den Genuss, selten gehörte und erlebte Perfektion zu bewundern. Uns allen ist
wohl bewusst, dass wir in diesen Momenten, eine der wenigen verbliebenen „Super-Gruppen“ Europas live erleben dürfen,
auch wenn diese Formulierung in den Medien wohl nie so gebraucht werden würde. Wahr ist sie dennoch!
Wie nicht anders zu erwarten, steht die „Hommage a J.S. Bach“ am Ende dieses Konzertes. Die wuchtige musikalische
Ehrerbietung für den großen Komponisten Bach, bei der sich VARGA noch einmal richtig in die Register knien kann,
beschließt ein Konzerterlebnis, von dem ich nicht sicher sein kann, ob ich es noch einmal in dieser Art werde erleben
können. Das scheinen viele andere mit mir auch so zu empfinden und eigentlich will keiner die vier Musiker von der Bühne
lassen. Dennoch muss nach einer kurzen Zugabe Schluss sein, was sicher auch dem Gesundheitszustand des Meister an der
Orgel geschuldet ist.
Nach diesem emotionalen Rundumschlag einfach nur zu gehen, war mir nicht möglich. Sprachliche Barrieren verhinderten
leider kleine Gespräche, aber Gesten zeigten mir deutlich, dass ich mit meinem Empfindungen nicht allein war. Immerhin ist
das COLLEGIUM MUSICUM vielen Fans in ihrem Land ein Heiligtum im übertragenen Sinne. Mir wurde das Glück zuteil,
noch eine Etage weiter in die Unterwelt abtauchen zu dürfen, um mit einem Idol meiner frühen Jahre ein paar Worte zu
wechseln und Eindrücke tauschen zu dürfen. Nach oben gestiegen bin ich mit der Zuversicht, die vier Slovaken eines Tages
vielleicht doch noch in meiner Heimat begrüßen zu dürfen.
Es gibt nicht mehr so viele Bands aus den ehemals im RGW vereinten Ländern, die auch heute noch aktiv sind und über
ihre Ländergrenzen hinaus die Meßlatte hoch halten. Neben dem großen Dreiergestirn, Czeslaw Niemen in Polen, Omega in
Ungarn und Fermata in der CSR, gehörte auch das COLLEGIUM MUSICUM aus Bratislava als vierte Komponente zu den
Großen des ehemaligen Ostens , so wie Illes in Ungarn und die Czerwone Gitary in Polen auch. Daran hat sich bis in heutige
Tage nichts wesentliches geändert. Niemen weilt nicht mehr unter den Lebenden, Omega steuert gerade mit neuen
Arrangements auf ein großartiges 50. Jubiläum zu und Fermata, das frühere „Mahavishnu Orchestra des Ostens“, gab im
März 2009 in Dresden ein Konzert, das kaum Beachtung fand. In solchen Momenten ist man geneigt, am Wissen und
Geschmack der musikinhalierenden Masse zu zweifeln.
Ich gehöre nicht zu denen, die sich 10 Mal und mehr im Jahr die variierte Set-List einer einzigen Band abspulen lassen. Ich
brauche die Abwechslung, den unterschiedlichen Vergleich und immer wieder die neue Entdeckung sowie den regelmäßigen
Blick über Tellerrand und Gartenzaun. Die Nacht mit dem COLLEGIUM MUSICUM hatte von all dem eine Menge und
außerdem die einzigartige Ausstrahlung eines Marian Varga an den Tasten und einem virtuosen Frantisek Griglak als
Gegenspieler an der Gitarre. Das nach so vielen Jahren noch einmal live erlebt zu haben, rückt für mich mal wieder ein paar
Maßstäbe zurecht und lässt mich so manche Euphorie anderer mit einem stillen Lächeln ertragen. Alles hat seine Zeit, alles
seine Berechtigung, jeder sein kleines Beatlechen und dennoch braucht man immer wieder Fixpunkte, um den Horizont zu
definieren.
P.S.: Ein ganz herzliches Dankeschön an Fedor Freso, sowie an Marc und Klaus Johne. Ohne Euch wäre das
alles undenkbar gewesen.