Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Sebastian und Loretta’s Tale – Cockney Rebel live 08.10.2006 Der 8. Oktober im Jahre 2006 ist so ein typischer diesiger und ungemütlicher Herbsttag, wie er in den Büchern nachzulesen ist. Ich fahre mit meinem „Langzeitkumpel“ Georg plus Roland Richtung Leipzig. Unser Ziel ist das Haus „Auensee“. Natürlich reden wir über Musik und das, was wir vielleicht in den bevorstehenden Stunden erleben wollen. In dieses Gespräch hinein formuliert jemand so nebenbei die Vermutung, dass vielleicht gar nicht so viele kommen würden, denn wer kennt heutzutage denn noch STEVE HARLEY & COCKNEY REBEL? – Es war 1973/74, da kroch ein düster-reizvoller und schwermütiger Song durch die Äther. Der hatte so etwas Eigenartiges von süßer Melancholie und zauberhafter Schönheit, dass man beim Hören geneigt war, sich einfach wegzuträumen, sich treiben zu lassen von der verschwenderischen Schwermut, die diese sieben Minuten auszustrahlen vermochten. Es war jene Zeit, als Georg und ich die Discothek im Jugendclub „Winterberg“ mit unserer ganz persönlichen Musik versorgten. Dort haben wir „Sebastian“ hoch- und runter geleiert und es ist uns, und offensichtlich auch den Gästen, nicht ein einziges Mal zu viel geworden. Das erste Album von COCKNEY REBEL bekam ich am 27. Oktober 1974 von DAVID aus Schottland geschickt. Doch auf „The Psychomodo“ (1974) war „Sebastian“ nicht zu finden, nicht mal so etwas wie ein Hit. Dennoch zählt diese Scheibe bis heute zu denen, die ich mir immer wieder gern auflege und die Debut-LP von COCKNEY REBEL mit dem Song, süß und klebrig wie Sirup, habe ich später auch noch bekommen. Der Sound von COCKNEY REBEL strahlte etwas aus, das mir bis dahin noch nie begegnet war und mit Worten kann man die Mixtur aus Cockney-Slang, Gitarre, Mandoline und Geige auch nur schwerlich zu beschreiben. Nicht Rock, nicht Dance Hall, nicht einmal Varietee, sondern von jedem etwas plus dem Habitus von Sex & Drugs & Rock’n’Roll sowie einen Touch Glitter und das alles in der Person eines Mannes. STEVE HARLEY ist eine echte Licht- und Glitzergestalt typisch Britischer Rockmusik, einer, der in keine gewohnte Schublade passt und wohl am besten mit dem Begriff eines musikalischen Chamäleons zu umschreiben ist. Der ehemalige Werbefachmann wusste seine Karriere geschickt in Szene zu setzen. Seine Art, im Dialekt des Londoner Stadtteils Cockney zu singen, so wie etliche Jahre zuvor auch die legendären Small Faces mit dem unvergessenen Steve Marriott, sich als von David Bowie und Bryan Ferry beeinflusst darzustellen, hatte einen so hohen Erkennungs- und Identifikationswert, dass seine Musik bis heute wie aus einem einheitlichen Guss und unverwechselbar klingt. Sie fesselt einen und lässt nie wieder los. Mit dieser Erwartung nähern wir uns Haus „Auensee“, in der Hoffnung, dort noch rechtzeitig für einen guten Stehplatz in Bühnennähe einzutreffen. Ich wollte ihm unbedingt so nah wie möglich sein. Dort angekommen, empfängt uns eine unheimliche Ruhe. Der Auensee schimmert düster durch die Bäume im aufkommenden Abend und das Haus selbst ist noch zu, keine Menschenseele weit und breit. Erst nach längerem Suchen öffnete sich eine Tür und wir erhalten die Auskunft, dass man im Vorverkauf nur 12 (!) Karten verkauft hätte. In diesem Moment sehen wir uns schon wieder auf der Heimfahrt und ohne einen Ton gehört zu haben. Unsere Stimmung befindet sich kurz vor dem Nullpunkt. Zusammen mit vielleicht 20 anderen Gästen und Fans entscheiden wir uns, zu bleiben und tatsächlich öffnet sich die große Tür eine knappe Stunde vor Konzertbeginn. So völlig entspannt bin ich seither nie wieder in einen Konzertsaal eingetreten, um dann in aller Ruhe, mit einem Bier in der Hand, ganz relaxt bis vor zur Bühnenkante zu gehen und mich dort vor den Mikrofonen zu postieren. Ab und an treten zaghaft neue Besucher ein. Kurz vor Beginn mögen vielleicht ca. 100 bis maximal 150 Leute im riesigen Saal des Hauses „Auensee“ auf den Konzertbeginn warten. Es ist ein komisches Gefühl, im leeren Haus vor einer großen noch leeren Bühne zu stehen. Was wir alle nicht mehr wirklich glauben, wird an diesem Abend tatsächlich wahr. Der Mann, auf den wir mehr als drei Jahrzehnte gehofft hatten, tritt auf die Bühne, um diese Leere im Saal zu ignorieren und uns ein fantastisches Konzert zu schenken. Da steht er keine drei Meter vor mir in seinen dunklen Jeans und einer schwarzen Jacke. Wir haben immer wieder Blickkontakt und ich werde diesen ganzen Abend das Gefühl nicht los, er würde dieses „Wohnzimmerkonzert“ für mich ganz allein durchziehen. Ein Mann und seine Band, dessen Karriere ich parallel zu Gruppen wie Queen, Big Country, U2 oder Simple Minds registriert und verfolgt hatte, steht plötzlich livehaftig vor mir und singt seine schönsten Lieder. Die Fotos bitte durch Anklicken vergrößern. Ich fühlte mich um 30 Jahre jünger, während STEVE HARLEY seine Klassiker wie „Mr. Soft“ und „Sling It“ singt und dabei von seinem alten Freund und Gitarristen JEAN-PAUL CROCKER unterstützt wird. Auch sein Drummer aus ganz frühen Jahren, STUART ELLIOTT, ist mit ihm auf Tour gegangen und so erleben wir paar Hanseln beinahe die alten originalen Rebels. Eines seiner schönsten Lieder ist sicher „Judy Teen“, das vom faszinierenden Spiel der Mandoline und der Violine lebt und von einer traumhaft schönen und eigenwilligen Melodie getragen wird. Auch „Make Me Smile“ aus jenen frühen Jahren ist so ein Song, den wir zu hören bekamen und ich stehe, staune, höre und genieße. Manchmal scheinen mir STEVE HARLEY und seine Musiker völlig in sich und ihre Musik versunken zu sein. Dann schließt er die Augen und die Saiten seiner Gitarre bekamen seine schiere Spielwut zu spüren. Nach einem dieser Soli wirft er urplötzlich mit einer schnellen Handbewegung sein Plectrum in genau die Richtung, wo ich stehe und wie durch ein kleines Wunder habe ich plötzlich dieses Souvenir aus dem Flug geangelt. Ich muss mich nicht mal bücken! Ich könnte schreien vor Begeisterung und Georg neben mir schaut mich ungläubig. Ich hab’s! Aber STEVE HARLEY ist ein unruhiger und schöpferischer Geist. Er ist nicht gekommen, seinen Back-Katalog live abzuspulen, sondern hat mit „The Quality Of Mercy“ seine brandneue Scheibe und einige Songs daraus mitgebracht. Mit denen knüpfte er stilistisch nahtlos an die frühen Jahre an, nur klingt heute alles ein wenig reifer und auch rockiger, nicht mehr ganz so märchenhaft und traumversunken, wie es mir damals schien. Ein Song wie „Journey’s End (A Father’s Promise)“ schafft es, nachdenkliche Worte geschickt in einem musikalischen Gewand zu verpacken. Mit „The Coast Of Amalfi“ zelebriert er gar eine romantische Feuerzeug-Hymne, die eigentlich in den Charts landen müsste. Danach greift er mit „Loretta’s Tale“ noch einmal tief in die alte Kiste, doch dann ist nach gut eineinhalb Stunden und dem Beatles-Cover „Here Comes The Sun“ das Konzert viel zu schnell vorüber. Natürlich hofft die kleine Besuchergemeinschaft auf eine Zugabe und der extravagante Engländer lässt sich tatsächlich von uns paar Hanseln noch einmal auf die Bühne locken und schenkt uns, worauf wir alle natürlich gehofft und gelauert hatten: „Sebastian“. Ich stehe vor dieser Bühne, habe meine Augen geschlossen und bin ganz in mich und meine Jugendtage versunken: „Your persian eyes sparkle, your lips ruby blue, never speak a sound… somebody called me Sebastian“. Jeder dieser derben wuchtigen orchestralen Akkorde ist in meinem Körper zu spüren, während die leisen und zarten Töne auf meinen sensiblen Nerven ein schwelgerisches Ballett tanzten. Was für eine Hymne, welch ein Genuss! Danach ist Schluss, aus und vorbei. Die Security ist an diesem Abend wahrscheinlich mit dem linken Bein aufgestanden. Beinahe wäre ich meinen Digitalknipser los geworden. Auch unsere Hoffnung, der Weltstar oder einer seiner Musiker würden den restlichen zehn Leuten noch ihre mitgebrachten Cover und Souvenirs signieren, erfüllt sich leider nicht. Wir stehen noch verdammt lange am Hinterausgang, doch die dunkle Limousine fährt ohne Halt in die Nacht und mein Single-Cover von „Judy Teen“ erhält keine Unterschrift. Nur das kleine gelbe Plectrum befindet sich seitdem in der schützenden Hülle. Da muss wohl, trotz aller Professionalität, bei den Musikern auch eine Menge Frust mitgespielt haben und irgendwie ist das auch verständlich und schade zugleich. Der Konzertabend im Haus „Auensee“ wird mir dennoch sehr angenehm und als mein persönliches „Wohnzimmerkonzert“ eines unterbewerteten Weltstars mit seiner Geschichte von „Judy Teen“, dem Märchen von „Loretta“ sowie der großartigen Hymne „Sebastian“ in Erinnerung bleiben. Niemand wünscht einem Künstler einen Veranstalter, dem ist nicht gelingt, das Publikum und die Fans zu mobilisieren. Schade für alle Beteiligten. Ein Bekannter von mir hat ihn dann während dieser Tour im westlichen Teil von Berlin auch live erlebt und hatte dort auch die Möglichkeit, ihn zu treffen. Für einen Momente war ich neidisch, doch auch froh, dass er mir doch noch zu einem Foto mit einem Autogramm verholfen hat.