Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
Christina Martin live im E-Werk Blankenburg 26.01.2018 Es sind nur ein reichliches Dutzend Kilometer von hier bis Blankenburg. Diesmal allerdings befahre ich den Umweg über Quedlinburg, um eine Bekannte aus Berlin abzuholen. Wenn jemand aus der Stadt in den Harz flieht, hat der entweder genug von der Hektik oder ist im Harz geboren. Für diese Dame trifft beides zu und irgendwie kann ich inzwischen die Sehnsucht nach diesen kleinen Mittelgebergen verstehen. Hier liegt Gelassenheit über den Höhen und hier tritt man manchmal einen Schritt zurück, statt nach vorn, um die Ruhe einzufangen. Nur ab und zu, wenn der Rock’n’Roll Einzug hält, wird es hier lauter. Man steht vor der Bühne, dreht völlig frei und denkt an nichts anderes mehr. Das kann der Besuch aus Berlin gut gebrauchen und deshalb wird sie mich heute zu Christina Martin & Dale Murray aus Kanada begleiten. Während man CHRISTINA MARTIN in ihrer Heimat gut kennt und mit Auszeichnungen ehrt, ist sie hier weitgehend unbekannt. Das möchte die Kanadierin gern ändern und deshalb ist sie im Duo mit ihrem Ehemann und Gitarristen DALE MURRAY auch in Deutschland auf Tour durch die Klubs. Sie bringt uns Lieder aus ihren letzten Alben „Sleeping With A Stranger“ (2013) und „It’ll Be Alright“ (2015) mit und hat außerdem ihr noch nicht veröffentlichtes Album „Impossible To Hold“ (März 2018) exklusiv mit im Gepäck. Ich möchte mich von einer mir unbekannten Künstlerin und ihren Songs überraschen lassen. Kurz nach 20.00 Uhr ist die Hütte gut gefüllt. Die Kanadierin wird angekündigt und dann steht sie vor uns auf dem Podest. Sie bittet uns, nicht zu fotografieren, denn dafür gäbe es einen, der das machen würde und einen weiteren vom Veranstalter. Seitlich zur Bühne stehend rufe ich ihr zu: „Me too!“. Sie stutzt, lächelt und meint dann: „Okay, U2.“ Erst Sekundenbruchteile später wird mir bewusst, was ich ihr zugerufen habe, doch da scheppern schon zwei Gitarren zu „Lungs Are Burning“ (Lungen brennen) vom noch nicht veröffentlichten Album durch den Raum. Der Abend kann beginnen. Die Musik kommt kraftvoll, obwohl da vorn „nur“ die Saiten von zwei Gitarren schwingen. CHRISTINA MARTIN füllt mit ihrer Stimme ein weites Spektrum zwischen zart und rauchig klingend aus. Die zarte Lady im eng anliegenden schwarzen Dress fasziniert mit ihrem Auftreten und, wie sie vom Entstehen ihrer Lieder spricht. Sie erzählt von ihrem viel zu früh verstorbenen Vater, der ihr die Liebe zur Musik mit auf den Weg gab und von ihrer Verehrung für Roy Orbison. Sie möchte gern ein einziges Mal ein Lied schreiben, das wie die des großen Vorbildes klingt und dann singt sie uns „Impossible To Hold“ (Unmöglich zu halten), den Titelsong des noch kommenden Albums. Könnte sein, dass jetzt bei Roy Orbison im Himmel die Ohren klingeln. CHRISTINA begleitet sich auf einer Akustikgitarre, die einen Hauch von Folk verbreitet. Ihr Partner DALE MURRAY ergänzt die Songs mit rockigen Tönen einer nostalgisch wirkenden Vintage-Gitarre. Damit erzeugen beide eine Melange aus Folk, Americana und poppigen Rockabilly-Anleihen, die sehr viel Emotionalität ausstrahlt. Songs wie „Two Hearts“ (2008) oder „Noise & Toys“ (2018) gehen mir tief unter die Haut und wirken besonders durch den intensiven, zuweilen sehr eindringlichen Gesang der zierlichen Lady mit dem frechen Blondschopf. Die sparsame Konstellation von nur zwei Gitarren und einer berührenden Stimme legt quasi jedes Detail offen, gibt jedem Solo und jedem Klang genug Raum, sich zu entfalten. So wird dem Publikum viel intime Nähe vermittelt. Dann kann ein Song wie „Lay You Down“ (Leg dich nieder), der von den schmerzhaften Möglichkeiten, sich Goodbye zu sagen erzählt, seine ganze emotionale Wirkung entfalten. Auch „Always Reminding“ (Immer wieder erinnern) lässt die Spannung auf dem hohen Level verweilen, auch wenn CHRISTINA dafür ihre Gitarre beiseite legt und sich von DALE MURRAY solistisch begleiten lässt. Sie steigt vom Podest, wandelt inmitten der staunenden Gäste und lässt beinahe ganz allein die Wucht ihrer Stimme zu sparsamen Gitarrentupfern einwirken. Ich spüre meine Nackenhaare, denn solche Momente, hautnah und intensiv, bleiben einem in großen Hallen verwehrt. Mit „Guard Your Heart“ (Schütze dein Herz) führt sie uns zehn Jahre zurück zu ihrem zweiten Album, um etwas später mit dem wundervollen „When The Dark Meets The Light“ beinahe in der Zukunft, im kommenden März zu landen. Den Song schrieb sie gemeinsam mit dem Kanadischen Songwriter Matt Epp. Bei „Always Rain“ erinnert sie noch einmal sehr gefühlvoll und im Stil einer Folk-Ballade an ihren Vater. Ihr Partner DALE MURRAY spielt dezent brilliante Gitarren-Licks dazu und versetzt den Liedern so einen zusätzlichen, inspirierenden Kick. Das fühlt sich an wie abgebremste zerbrechliche Rockmusik in Slow Motion, um danach mit dem „Puppet Museum“ wieder kräftig in die Saiten greifen, bis im Saal gepfiffen und getobt wird. Es ist kaum zu glauben, aber die beiden Kanadier schaffen es tatsächlich, mit sparsamsten Mitteln die Leute aus der Reserve zu locken, bis sie laut in Begeisterung ausbrechen. Dass sich CHRISTINA MARTIN auch den schwierigen Themen zuwendet, demonstriert die charmante Künstlerin eindrucksvoll am Ende des Konzerts, indem sie mit „Deep Dark Red“ (tief dunkelrot) einen eindringlichen Song zum bedrückenden Thema Demenz anstimmt. Noch einmal vermag sie mit ihrer einfühlsamen großen Stimme zu überzeugen und zu berühren. Sekunden später nehmen die zierliche Lady und ihr Ehemann die Begeisterung und Dankbarkeit ihres Publikums in Blankenburg entgegen. Da stehen sie beide, etwas zu bescheiden sowie sichtlich gerührt, und lassen sich natürlich noch gern zu zwei weiteren Songs für uns „überreden“. Mit „Falling For You“ versprühen sie noch einmal deftige handgemachte Folk-Atmosphäre und mit „Daisy“ besingt sie als beschwingten „Rausschmeißer“ eine Katze, den geliebten besten Freund ihres Vaters. Beide bedanken sich und begeben sich ins Foyer, um dort noch CD’s und Karten zu signieren. Minuten später habe auch ich Gelegenheit, mit ihr zu sprechen und Fragen zur Entstehung ihrer Songs zu stellen. Als ich ihr erkläre, dass ich die Informationen für einen Konzertrückblick benötige, geht sie und kommt kurz darauf mit einem Packen all ihrer CD’s wieder. Drückt sie mir in die Hand, lächelt und sagt: „For you.“ – Auf der Rückfahrt lassen wir die Episode noch einmal an uns vorüber ziehen. Meine Beifahrerin hat alles mit angesehen und freut sich für mich. Irgendwo da draußen im Dunkeln ragt die Teufelsmauer in den Nachthimmel, Hexen soll es hier auch geben, sagt man. Wir verabschieden uns in Quedlinburg und dann gleite ich gemächlich über den dunklen Asphalt in die rabenschwarze Nacht hinein, Halberstadt entgegen. Was für ein inspirierender und überraschender Konzertabend!