Lebensgefühl Rockmusik HH aus EE
4. Blues-Festival Landsberg 2022, 23.07.2022 mit Big Joe Stolle Bluesband, Engerling, Renft, Mike Seeber Trio und der Andreas Diehlmann Band. Unter diesem Felsen stand ich, als Omega ihr erstes deutsches Nachwende-Konzert spielten. Dieses Ereignis ist jetzt siebzehn Jahre her. Die Band aus Ungarn existiert nicht mehr, die Felswand aber ragt noch steil wie damals ins Himmelsblau, ein Fels eben. Davor scheint die Bühne zu klein geraten, auch das Areal ist noch leer, als ich eintreffe. Eine Stunde später sammeln sich Fans vor der Bühne, andere werden das Konzertgeschehen von ihren erhöhten Plätzen auf dem Hang genießen. In diesen Stunden treffe ich auch Freunde wieder, die ebenfalls lange auf solche Momente warten mussten. „Live is life“ und die digitale Spielwiese ist bestenfalls eine Trockenübung vom heimischen Sofa aus. In Landsberg aber findet heute ein „Treffen der Silberrücken“ (und Rock-Rentner) statt. So scheint es zumindest. Mr. Big Joe Stolle eröffnet mit seinen Musikanten den abendlichen Reigen. Der „Müllmann Blues“ ist ein Klassiker von Stolle, der nun mit seinen stampfenden Takten über das Areal wie „zwischen Asche, Müll und Ruß“ schreitet. Schöne alte Nummer und die ersten Reihen wiegen sich im Rhythmus vor der Bühne mit. Ich stehe mittendrin, lasse mich treiben und genieße es, endlich wieder vom Gefühl des Dabeiseins getragen zu werden. Neben mir glückliche Gesichter zu den Klängen von „Adrenalin“ und „Workin’ By Myself“, während unsere Füße das staubige Terrain vor der Rampe abtasten. Das ist so herrlich, so schön! Neben Big Joe hüpft der unvergleichliche Mauro Pandolfino barfuss über die Bühnenbretter und zupft, scheinbar so ganz nebenbei, erstaunlich virtuose Läufe und Soli aus den Gitarrensaiten. Der Mann ist eine Erscheinung und nahezu das glatte Gegenteil zu Robert Gläser, den stampfenden Bassmann und einzigartigen Rampenanimateur auf der anderen Bühnenseite. Die drei sind ein eingespieltes Trio, das im Schein der Abendsonne den „Little Red Rooster“ ins weite Rund jagt. Dass Big Joe außerdem einen gehörigen Schuss Humor im Blut hat, beweist er mit „Wo sind die Haare hin“, einem eingedeutschten Blues-Klassiker der besonderen Art, wie der gelüftete Hut beweist. Der schwergewichtige Bluesmann besticht wieder einmal mit dezent lockerer Leichtigkeit, einer, der den Boogie und Blues im Gespür zu haben scheint. Einfach wundervoll. Tja und dann haut der Mann eine Nummer raus, die ich schon mehr als ein halbes Jahrhundert nicht mehr auf dem Schirm hatte. Zu Pennezeiten, in der Mitte der 1960er Jahre, haben wir bei „Memphis Tennesee“ gerockt und gehottet, was das Zeug hielt und jetzt macht der Stolle daraus einen deftigen Blues, der die felsige Wand bröckeln lässt. Das sind Momente, die einen (Rock)Rentner seelig machen können und die Adrenalinpumpe einen Gang höher schaltet. Als wäre das nicht schon genug, stampft danach ein chromatischer Basslauf über die Bünde abwärts. „These Boots Are Made For Walking“, von Lee Hazlewood für Nancy Sinatra geschrieben, hatte uns schon 1966 beglückt und zum Tanz verleitet. Diesen Song als stampfenden Blues und fünf Dekaden danach noch einmal zu erleben, das hat etwas faszinierend Berauschendes. Den „Bye Bye Blues“ nehme ich dann nur noch nebenbei wahr. Ich muss jetzt erst mal meine Gefühle sacken lassen und den Füßen eine kleine Pause gönnen. Noch streift die Abendsonne die Baumwipfel, da stehen die Fans wieder dicht gedrängt an der Rampe. Wuchtige Akkorde rollen aus den Tasten, aus denen sich eine alte Melodie von Bob Dylan schält: „Es kommen andere Zeiten“ singt Boddi Bodag und das nicht nur in Anspielung auf aktuelles Geschehen. Nichts ist so konstant, wie die Veränderung. Vielleicht wollen uns genau das die Zeilen von „The Times They Are A-Changing“ sagen. Ich liebe diese Nummer und die deutschen Worte dafür. Gleiches schafft Boddi Minuten später noch einmal mit seiner Version des Renegades-Klassikers „Cadillac“. Wieder sind meine Gedanken tief in den 1960er Jahren, als der Song ein Hit und wir begeistert waren. Da stört es auch nicht, dass die Engerlinge zwischen beiden Songs noch den Zug (oder war’s ’ne „weißen Ziege“?) über das Areal scheuchen. Die Herren um Boddi Bodag spielen ihre ganz eigene, zeitlose Variante vom Blues, in die man vor der Bühne stehend, wundervoll eintauchen kann. Engerling sind, wie Altmeister Kerth auch, eine Institution in diesem Teil Deutschlands und ein Garant für ehrliche Blueslieder auch. Ihnen sieht und merkt man die „Freude am Beruf“ tatsächlich immer noch an. Einfach großartig! In den Songs von Boddi finden sich viele wieder. Die, die vor der Bühne stehen und mit dieser Musik von Engerling in die Jahre kamen. Das spüre ich wieder, als da oben die Ballade vom „Erlkönig“ klingt, die Gitarrensaiten von Heiner Witte singen und schreien, während Boddi die Worte ins Mikrofon presst oder wispert. Das ist faszinierend und dann kommt er mit diesem weiteren Uralt-Klassiker um die Ecke. Wer hätte gedacht, dass „Eve Of Destruction“ noch einmal so ungemein aktuell sein könnte: „How you don't believe we're on the eve of destruction.“ Was hab’ ich den Song geliebt und wie erschreckend ist die Botschaft immer noch! Danke Barry McGuire, danke Boddi. Aber es gibt zum Glück auch die Story von „Mama Wilson“ und das süffisante „Herbstlied“. Die Ballade von Al Wilson schwingt in den Körpern vor der Bühne mit. Manche Fans tanzen, in vielen Gesichtern kann man Freude sehen und irgendwie auch ein Grinsen entdecken, wenn Boddi sing: „Neuer Duft in neuer Zeit, neu verpackte Süßigkeit.“ Womit wir im Grunde wieder bei Dylan wären, denke ich, und bin glücklich, heute nach Landsberg gefahren zu sein, wo Engerling die Bühne rockt und ein bestens gelaunter Tastenmann in losen Noten- und Textblättern wühlt. „Live is life“ und Youtube & Co. im besten Fall nur Krücken, die unsere Wünsche artikulieren, sie aber nie erfüllen. Man muss schon selbst vor der Rampe stehen. Auch und erst recht als (Rock)Rentner! Punkt. Meine Füße und der Rücken drängen auf eine Pause vom Stehen. Bei Freunden am CD-Stand kann ich sitzen und etwas trinken, ehe nach vier Stunden die dritte Kapelle auf der Bühne stehen wird: RENFT. Nach langer Zeit bin ich wieder bei Renft - wer hätte das gedacht! Doch hier ist keine Theaterbühne, sondern eine Freiluft-Mugge, und auch nicht akustisch, sondern mit Stromgitarre. Bis zur Abendstunde und bis zu Renft wollte ich auf jeden Fall bleiben, so war mein Plan. Willkommen also bei Renft: Vor der nächtlichen Bühne stehen wir jetzt dicht gedrängt. Die harten Renft-Fans und jene, die gleich mir, bei diesem Blues-Festival nebenbei ihre Neugierde auf die aktuelle Renft-Band stillen möchten. Deshalb klingt „Nach der Schlacht“ natürlich anders, als es meine Erinnerungen abgespeichert hatten. Pitti spielt die Gitarre kraftvoll, zitiert mal kurz „Race With The Devil“ (Gun) und genau so kräftig hält Monster stimmlich dagegen. Mit gleicher Power begrüßen wir den „Wandersmann“, den Fans lautstark im Chorus mitsingen. Die Stimmung ist gut, der Sound rockt, doch ein Funke will bei mir (noch) nicht springen. Meinem Nebenmann scheint es ähnlich zu gehen oder was will er mir mit seinem Schulterzucken sagen? Die „Otto-Ballade“ verhindert einen weiteren Gedankenaustausch und das ist vielleicht gut so. Natürlich sind die Klassiker der Klaus Renft Combo zu erkennen und Monster gibt alles, um ihnen eine zeitgemäße Ausstrahlung über das klassische Gerüst zu streifen. So krachen „Der Wind weiß, was mir fehlt“ und „Als ich wie ein Vogel war“ lautstark über die Rampe und selbst „So starb auch Neruda“ hat nichts von seiner inhaltlichen Ausstrahlung eingebüßt. Dennoch darf ein Fan der alten Combo das Filigrane vermissen und das Fehlen einer Orgel bedauern. Da bin ich Purist. Mit diesem stampfenden „Cäsar’s Blues“ ohne Mundi kann ich nicht viel anfangen und „Wer die Rose ehrt“ ohne Orgel ist wie Roulade ohne Füllung mir schlicht zu trocken. Getragen wird die Musik noch immer von den großartigen Liedern des Dreigestirns Monster, Kuno und natürlich Cäsar, der sie geschmeidig und dennoch kantig gemacht hatte. Das sollte man nach so vielen Jahren nicht vergessen, auch wenn Namen an diesem Abend nicht genannt werden. Mit dem „Apfeltraum“ und dem Liedchen vom „Gänselieschen“, die beide vom Fan-Chor mitgesungen werden, beendet Renft den Auftritt, um den „nachfolgenden Kollegen noch genug Zeit zu lassen“, wie Pitti zum Abschied meint. Es ist eine Stunde vor Mitternacht. Seit sechs Stunden bin ich auf den Beinen. Das spüre ich deutlich. Zwei weitere Stunden Blues im Stehen werde ich nicht mehr durchhalten. Doch ein wenig Nachtisch mit dem Mike Seeber Trio gönne ich mir trotzdem. Der Typ spielt, wie ich bereits erfahren durfte, eine saugeile Klampfe, Blues laut und dreckig. Also stehe ich noch einmal ganz vorn an der Rampe, gönne mir diesen Sound noch für zwei, drei Nummern und spüre den Druck, der zu nächtlicher Stunde das kleine Städtchen wach hält. Mein lieber Herr Gesangsverein, der greift verdammt vollmundig in die Saiten! Den Auftritt der Andreas Diehlmann Band aber, und sicher weit nach Mitternacht, schenke ich mir. Für heute ist es genug, meckert der Rücken. Längst bin ich nicht mehr der erste, der seine Heimreise antritt. Einige sind schon weg, weitere gehen gleich mir, nachdem wir uns voneinander verabschiedet haben. Der deftige Blues des Trios begleitet mich noch bis zum Asphalthobel. In den engen Straßen von Landsberg und später auf der Piste, spüre ich den Nachklang der erlebten Stunden, fühle mich etwas schlapp, aber glücklich. Möge es nächstes Jahr auch eine nächste Ausgabe des Blues- Festivals in Landsberg geben. Mir persönlich würden dann vier Bands, mit etwas mehr Spielzeit, völlig genügen. Dann wäre ich gern wieder dabei.